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Pro und Contra Multi-Channel-Handel
Sonstiges 05.06.2012
Sonstiges 05.06.2012

Pro und Contra Multichannel: Gerrit Heinemann gegen Jochen Krisch Pflicht oder Quatsch?

Ist Multi-Channel-Handel wirklich Quatsch, wie es eine aktuelle Studie der Strategieberatung SMP propagiert? Oder ist Multi-Channel sogar Pflicht? Darüber diskutieren aktuell E-Commerce-Experten aus ganz Deutschland. Wir haben die Ansichten von Jochen Krisch und Gerrit Heinemann, zweier namhafter E-Commerce-Berater, nebeneinandergestellt. Doch die kamen auch zu keinem einheitlichen Fazit.

"Mit einer Multi-Channel-Strategie kann man zwar zum umjubelten Helden auf "Branchenevents für Multi-Channel-Handel" werden, wo sich traditionell die Online-Skeptiker versammeln, um sich gegenseitig professionell Trost zu spenden und in Sicherheit zu wiegen und sich bei der Gelegenheit über die Verrücktheiten und die Unzulänglichkeiten der Onliner zu amüsieren. Zu einem führenden Online-Versender wird man auf diese Weise aber sicher nicht", hetzt E-Commerce-Berater Jochen Krisch auf seinem Weblog "Exciting Commerce".

Gerrit Heinemann und Michael Schleusener, beide Professoren an der Hochschule Niederrhein und Leiter des dortigen eWeb Research Center setzen dagegen: "Kaum ein Kunde kann die im Ausland bereits gängigen Cross-Channel-Leistungen und deren Vorteile kennen. Wenn ein Service aber bekannt ist, weil er zum Beispiel hinreichend beworben wird oder aber auch Kunden sich darüber positiv in Foren äußern, schnellen die Nutzungszahlen in die Höhe. Und die Kunden die das tun, sind sogar bereit, ein Premium zu zahlen."

 

Hier gibt es die Stellungnahmen der E-Commerce-Profis in ausführlicher Form:

Pro Multichannel: Gerrit Heinemann und sein Kollege Michael Schleusener sind davon überzeugt, dass Multi-Channeling die Kundenabwanderung verhindert, während Channel-Exzellenz nur im Kanal selbst bindet.

Contra Multichannel: Jochen Krisch glaubt, dass die auf das Online-Geschäft fokussierten Pure Player den Versandhandelsmarkt treiben und dem stationären Handel Marktanteile abjagen, während die Multi-Channel-Versender mit ihren nett gemeinten Online-Auftritten allenfalls ihr eigenes Klientel bedienen, beim breiten Online-Publikum aber nicht Tritt fassen können.

Ihre Meinung ist gefragt: Was glauben Sie? Brauchen große Handelsketten eher eine Strategie, ihre verschiedenen Kanäle sinnvoll zu integrieren? Oder sollten sie für jeden Kanal autark nach Exzellenz streben? Stimmen Sie hier ab.

"Multi-Channeling verhindert Kundenabwanderung - Channel-Exzellenz bindet nur im Kanal selbst"

Gerrit Heinemann und Michael Schleusener vom eWeb Research Center Niederrhein interpretieren die SMP-Ergebnisse auf eine ganz eigene Art:

"Sind Konsumenten nun an umfassenden Cross-Channel-Leistungen und damit einer Kanalintegration interessiert oder nicht? Ergebnisse einer jüngst von SMP vorgelegten Cross-Channel-Studie scheinen eher auf Desinteresse der Kunden zu deuten – dabei geht es um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass zunächst die exzellente Bespielung eines Kanals den Kunden bindet – insbesondere nach der einer einmal getroffenen Entscheidung für den Einkaufskanal. Bei exzellenter Leistung des Händlers ist der Kunde auch loyal – und dies gilt sowohl für den Online- als auch den Stationärkauf. So wird in der Studie herausgestellt, dass sich die Kanalexzellenz in den einzelnen Kanälen signifikant auf die Loyalität und die Kundenwerte auswirkt. Loyalität für eine Kanalintegration, die lediglich eine Angebotsparität, also eine Gleichheit von Sortiment, Preis usw. in allen Kanälen bedeutet, konnte nicht nachgewiesen werden. Dies liegt auf der Hand: Stellt der Händler sich nicht mit Sortiment, Preis usw. auf das jeweiligen Wettbewerbsumfeld ein, dann wird er den Kunden natürlich nicht binden können. Warum sollte ein Kunde loyal sein, wenn der Händler stationär einen fairen Preis bietet, aber in der Online-Welt mit eben diesem Preis nicht mitspielen kann und der Kunde damit deutlich mehr bezahlen müsste? Es wäre schon überraschend gewesen, wenn sich hier positive Wirkungen auf die Loyalität ergeben würden.

Im Gegensatz zu dieser „Gleichbehandlungsstrategie“ der Kanäle stehen die kanalverbindenden Cross-Channel-Leistungen, die sehr wohl einen Mehrwert bei den Kunden erzeugen können, wie die jüngste Studie zum Thema „Preisbereitschaften für Multi-Channel-Leistungen“ des eWeb Research Centers der Hochschule Niederrhein und des Dienstleisters Accenture gezeigt hat. Kunden sind bereit, mehr zu bezahlen, wenn ein Händler integrierende Leistungen über die Kanäle hinweg anbieten kann – und dies geht über die Existenz eines einfachen Online-Shops für einen Stationärhändler weit hinaus.

Das Hauptproblem im deutschen Handel ist vor allem darin zu sehen dass es hier nicht einen einzigen Anbieter gibt, der die Online- und Offline-Kanäle durch echte Multi-Channel-Leistungen wie u.a. „Click&Reserve“, „Click & Collect“ oder „Instore Pickup“ voll integriert hat. Schuh-Görtz hat sich zwar auf den Weg gemacht und Sportscheck und Globetrotter sind auch dabei, aber die vollintegrierten Cross-Channel-Händler sitzen im englischsprachigen Raum und keiner davon in Deutschland. Deswegen kann hier auch kaum ein Kunde die im Ausland bereits gängigen Crosschannel-Leistungen und deren Vorteile kennen, was auch die Studie des eWeb Research Center zeigt (vgl. Abbildung 1). Wenn ein Service aber bekannt ist, weil er z.B. hinreichend beworben wird oder aber auch Kunden sich positiv darüber in Foren äußern, schnellen die Nutzungszahlen in die Höhe (vgl. Abbildung 2). Und die Kunden, die das tun, sind sogar bereit, ein Premium zu zahlen. Dass allerdings auch in der SMP Studie die Mehrzahl der stationären Besucher angibt, nach dem Besuch im Ladenlokal bereits im Internet gekauft zu haben, muss als Alarmsignal für den stationären Handel gewertet werden. Dieser sollte insofern bei dem Multi-Channel-Thema Gas zu geben, statt weiterhin auf den traditionellen „Offline-Lead-Kanal“ zu setzen. Die 67 Prozent der Kunden, die angeben, dem Stationärhändler in vielen Fällen auch online treu geblieben zu sein, unterstreicht diese Empfehlung. Es bestätigt aber auch die Erfahrungen ausländischer Best Practices, dass der Online-Kanal das komplette Stationärsortiment abbilden sollte plus zusätzlicher Attraction-steigender „Nur-Online-Sortimente“. Dies sollte vernetzt durch gängige Multi-Channel-Leistungen geschehen, sonst kauft der Kunde in der Tat online woanders, was nach dem Stand der Dinge im deutschen Handel heute noch eher die Regel ist. Dies ist riskant,  denn der Onlineanteil im deutschen Einzelhandel wächst progressiv mit zuletzt 18,7 Prozent in 2011. Dieser wird mindestens 20 Prozent in 2020 erreichen und sein Wachstum in erster Linie von der Fläche holen. Um in Zukunft überleben zu können, wird dem deutschen Einzelhändler gar nichts anderes übrig bleiben, als offensiver denn je das Multichannel-Thema zu treiben, und zwar mit maximal möglicher Integration der Kanäle."

"All die schön gefärbten Multi-Channel-Strategien können nicht halten, was sie versprechen"

E-Commerce-Berater Jochen Krisch fühlt sich durch die SMP-Studie in seiner schon lange gesetzten These bestätigt, dass auf das Online-Geschäft fokussierte Pure Player dem stationären Handel Marktanteile abjagen:

Eine bemerkenswerte Repräsentativ(!)-Befragung hat dieser Tage für Aufsehen in der Branche gesorgt, die im Kern aber nur das unterstreicht, was Exciting Commerce Leser längst wissen: dass all die schön gefärbten Multi-Channel-Strategien nicht halten können, was sie versprechen: "Kunden interessieren vernetzte Angebote im Handel kaum // Endverbraucher honorieren Exzellenz einzelner Vertriebswege stärker als Integration // Drei Viertel haben beim Wechsel zum Online-Geschäft schon einmal den Anbieter geändert"

Die Ergebnisse decken sich mit dem, was man seit Jahren beobachten kann: wie die auf das Online-Geschäft fokussierten Pure Player den (Versandhandels-)Markt treiben und dem stationären Handel Marktanteile abjagen, während die Multi-Channel-Versender mit ihren nett gemeinten Online-Auftritten allenfalls ihr eigenes Klientel bedienen, beim breiten Online-Publikum aber nicht Tritt fassen können:

  • Speziell der Otto-Konzern als einer der Wortführer in Sachen Multi-Channel beweist seit Jahren, wie er mit seinen Online-Versuchen ein ums andere Mal scheitert, und auch mit seinen Multi-Channel-Bemühungen im Online-Wettbewerb weit und weiter zurückfällt.
  • Media Markt freut sich, seine Kanalkonflikte nun schön langsam in den Griff zu bekommen, macht sich dabei jedoch mit seinem mehr als dürftigen Online-Auftritt zum Gespött der Online-Shopper.
  • Am Bittersten ist die Lage für den Buchhandel, der Amazon strategisch so rein gar nichts entgegenzusetzen hat. Für viele Buchverlage ist Amazon schon heute der Abnehmer Nr. 1, und Amazon wird dies natürlich zu nutzen wissen.

Mit einer Multi-Channel-Strategie kann man zwar zum umjubelten Helden auf "Branchenevents für Multi-Channel-Handel" werden, wo sich traditionell die Online-Skeptiker versammeln, um sich gegenseitig professionell Trost zu spenden und in Sicherheit zu wiegen und sich bei der Gelegenheit über die Verrücktheiten und die Unzulänglichkeiten der Onliner zu amüsieren. Zu einem führenden Online-Versender wird man auf diese Weise aber sicher nicht.

Strategisch denkende Händler sollten sich nicht zu sehr an ihr angestammtes Klientel klammern und sich hin und wieder mal vor Augen führen, wie sehr sie sich selbst beschränken, indem sie aus falsch verstandener Nostalgie ein (Markt-)Potenzial von 40 bis 50 Millionen aktiven Online-Shoppern links liegen lassen, das sie mit einer vernünftigen Online-Strategie problemlos ansprechen könnten, so aber widerstandslos (und verdientermaßen) ambitionierten Onlinern wie Amazon, Ebay, Zalando & Co. überlassen.

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