
Die dmexco war herausragend und bestens organisiert. Doch bei aller Euphorie für internationale Speaker, künstliche Intelligenz und die Verlässlichkeit von Data: Die Kreativität darf nicht zu kurz kommen.
Wenn die dmexco die Sesamstraße wäre, müsste Graf Zahl die Keynote halten. Und wir könnten uns beruhigt zurück lehnen. Denn so unberechenbar die Welt da draußen auch geworden ist: In unserem Online-Marketing-Kosmos lässt sich alles berechnen, planen, vorhersagen. Programmatic Advertising, Cognitive Data und Artificial Intelligence sind die Messe-Trends des Jahres, und sie sorgen dafür, dass genau die richtige Botschaft auf dem richtigen Kanal zum richtigen Zeitpunkt die richtige Person erreicht. Man kann es kaum anders sagen: Marketing hätte damit den Zustand der Vollkommenheit erreicht. Was lässt sich noch optimieren, wenn jeder Verbraucher in Echtzeit genau die Message bekommt, auf die er gewartet hat?
Trügerische Illusion
Vielleicht erliegen wir aber gerade einer trügerischen Illusion: der Vorstellung, dass sich alles im Marketing zahlenbasiert herleiten lässt. Das mag auf wesentliche Teile im Marketing-Prozess sicher zutreffen. Data hilft uns, unsere Konsumenten besser zu verstehen, ihre digitalen Fußabdrücke zu finden und Werbung genauer auszuspielen. Davon profitieren unsere Geschäftsmodelle und erlangen damit eine strukturelle Überlegenheit gegenüber Print oder dem linearen Fernsehen. In einem Punkt hilft uns Data aber nicht: bei der Kreativität.
Damit meine ich nicht Banner, die für eine Frau einen roten Fonds einblenden und für einen Mann einen blauen. Meine Überzeugung ist, dass es bei uns komplizierten Menschen eine Verbindung zwischen Herz, Bauch und Hirn gibt, die ein Algorithmus nie abbilden kann. Eine Zeile wie "Wir sind Papst!" etwa drückt ein kollektives Lebensgefühl aus, das über künstliche Intelligenz kaum reproduzierbar sein wird.
Kreativität schafft Überraschendes, Unvorhergesehenes. Sie zielt aufs Unterbewusstsein, weckt Neugierde und Bedürfnisse für Produkte und Services, die wir bis dato nicht in Betracht gezogen haben. Data-basiertes Marketing funktioniert aktuell (noch) weitgehend so: Wer sich Winterreifen kauft, braucht eventuell auch neue Felgen, einen Winter-Checkup oder eine Standheizung. Aber, ob tief in unserer Zielperson ein Interesse für fernöstliche Meditation schlummert und nur darauf wartet geweckt zu werden - wer weiß das schon?
Was lernen wir daraus?
Vor diesem Hintergrund war das Gespräch von Sir Martin Sorrell und Shane Smith auf der diesjährigen dmexco bemerkenswert. Da befragt der mächtigste Werber der Welt einen Kanadier, der aus der Arbeitslosigkeit heraus mit zwei Kumpels ein Lifestyle-Magazin gegründet hat. Nach der Big-Data-Logik hätte man Shane Smith wahrscheinlich ein Banner für die Zahnzusatzversicherung oder das nächste Tattoo-Studio um die Ecke ausgespielt. Dabei wäre ein Angebot für Vermögensverwaltung viel passender gewesen.
Was lernen wir daraus? In den letzten Jahren haben wir sehr stark die technischen Möglichkeiten unseres Business entwickelt. Für den nächsten Schritt müssen wir die sich daraus ergebenden, zahlengetriebenen Trends mit der mitunter etwas chaotischen Welt der Kreativen zusammenbringen. Die dmexco ist als Werbegipfel dafür prädestiniert, diese Diskussion zu führen und Ergebnisse zu präsentieren.
Also: Wenn diesmal Graf Zahl das Sagen hatte, so sollte nächstes Mal der eher exzentrische Ernie mit ran ans Mikro.