
Was hat der elektronische Handelsplatz der deutschen Börse mit dem Einkauf und Aussteuern von Display-Werbung zu tun? Und warum muss der Mensch intelligenten Systemen die Regeln vorgeben?
Bei der Xetra-Einführung vor 19 Jahren spotteten die Experten noch. Im vergangenen Jahr wurden bereits über 90 Prozent des gesamten Aktienhandels an deutschen Börsen über den elektronischen Handelsplatz abgewickelt. Laut Experten hat Xetra sich durchgesetzt, weil er marktgerechte Ausführungspreise, geringe Transaktionskosten und einen gleichberechtigten Zugang für die Marktpartner bietet.
Kennen Sie diese Argumente? Wenn Sie sich mit dem Echtzeithandel für digitale Werbung beschäftigen, liegen die Analogien auf der Hand. Auch bei Programmatic Advertising herrschte am Anfang Skepsis. Mittlerweile sind der Einkauf und das Aussteuern von Online-Display-Werbung über elektronische Handelsplattformen jedoch Alltag. Zwar wird derzeit in Deutschland noch weniger als die Hälfte der Display-Werbung programmatisch gebucht, doch bis 90 Prozent der digitalen Werbung über elektronische Marktplätze gehandelt werden, wird deutlich weniger Zeit vergehen als bei der Xetra-Einführung.
"Und" statt "gegen"
Wenn wir in Deutschland diese Entwicklung im Werbemarkt in Richtung Plattformen, Marketing-Suites und -Automation kommentieren, dann meist aus der "Gegen-Perspektive": Mensch gegen Maschine. Algorithmus gegen Bauchgefühl. Menschliche gegen künstliche Intelligenz. Diese Haltung schadet uns eher, als das sie nutzt. Denn zum einen sinkt im digitalen Universum die Zahl der Marken mit "treuen" Konsumenten, andererseits steigt die Zahl der Kanäle und Touchpoints zum Konsumenten permanent weiter. Oder haben Sie sich vor zwei Jahren mit Snapchat, Instagram, Beacons und 360-Grad-Videos beschäftigt?
Marketing wird in einer zunehmend digitaleren Welt immer komplexer. So komplex, dass der Marketer - will er sich in dieser Situation behaupten - zwingend die Unterstützung durch Maschinen, Algorithmen und Plattformen benötigt. Was wir dabei brauchen, ist keine rosarote Brille. Wir brauchen die "Und-Perspektive" als generelle Haltung: Mensch und Maschine! Algorithmus und Bauchgefühl! Menschliche und künstliche Intelligenz! Das perfekte Zusammenspiel wird in Zukunft über Erfolg und Misserfolg entscheiden.
Praxis-Fälle aus dem E-Commerce
Ein Beispiel: Viele Online-Händler erwirtschaften das Gros ihres Umsatzes im Weihnachtsgeschäft. Und sie nutzen für ihre Suchmaschinenwerbung meist ein Bid-Management-Tool, das ihnen mit einem ausgeklügelten Algorithmus den automatisierten Bietprozess abnimmt. Ganz zentrale Fragen beantwortet dabei nur das Zusammenspiel aus Mensch und Maschine.
Beispiel gefällig? Wann ist der Shopping-Höhepunkt im Weihnachtsgeschäft erreicht? Lohnt es sich, Werbung über die Feiertage zu schalten? Oder wann ist der richtige Zeitpunkt, die eigene Kampagne hoch- und wieder runterzufahren? Antworten darauf erhält der SEA-Manager unter anderem auf Basis einer Datenanalyse der Vorjahre und durch intelligente Dashboards. Die Maschine und der Algorithmus sind sozusagen der perfekte Zuarbeiter, der den Mammutanteil der Arbeit übernimmt. Und das Fein-Tuning übernimmt der Mensch. Bei ihm liegt die letzte Kontrolle, er kann alles überblicken - aber er trägt auch die Verantwortung.
Ein anderes Praxisbeispiel: Zwei Händler verkaufen Fashion im Netz: Der eine Damenmode, der andere Herrenmode. Grundsätzlich zwar eine Branche - Mode -, aber de facto zwei völlig verschiedene Käufergruppen mit unterschiedlichem Kaufverhalten im Netz. Das kann nur ergründen, wer sich von Maschinen unterstützen lässt, in dem er die Customer Journey beider Warengruppen untersucht.
Das Ergebnis in Kurzform: Frauen, die Luxusmode kaufen, tun dies häufiger tagsüber, überproportional oft via Tablet und brauchen deutlich länger bis zur Entscheidung als Männer. Auch sonst hält das Nutzerverhalten so manche Überraschung im direkten Vergleich der Geschlechter bereit - zum Beispiel in Form von deutlich höheren SEA-Kosten im Herrenmode-Bereich.
Elektronische Handelsplattformen, Software zur Datenanalyse, Bid Management Tools und ähnliches werden künftig immer größere Teile der Abwicklung von Planung, Einkauf und Buchung übernehmen.
Erst durch die Tatsache, dass Algorithmen das Kleinklein der "täglichen" Optimierung übernehmen können, bekommt der Marketer die Zeit, sich intensiver mit strategischen Fragen auseinanderzusetzen oder Leistungswerte eigener Kampagnen mit existierenden Benchmarks zu vergleichen. Denn die grundsätzliche Strategie und die Regeln beziehungsweise Algorithmen nach denen Maschinen tätig werden sollen, werden weiterhin die Marketer (oder von ihnen gebriefte Mathematiker) bestimmen.
Was Marketingverantwortliche lernen müssen
Damit Marketing-Verantwortliche aber mitreden können, müssen sie sich intensiv über die Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten der neuen Technologien informieren. Diese führen nämlich nicht dazu, dass Menschen überflüssig werden. Aber sie erfordern eine neue Arbeitsteilung: Je höher der Automatisierungsgrad im Marketing, desto qualifizierter muss das Personal sein. Denn nur wer weiß, was die neue Technologie konkret leisten kann, wird ihr Potenzial auch ausschöpfen können.
Deshalb liegt falsch, wer meint, dass es durch den Einsatz der neuen Technologien eine Art Autopilot-Button für erfolgreiche Kampagnen gibt: Einen "Chief Executive Server", der medien- und kanalübergreifend über Etats und Budgets entscheidet, wird es perspektivisch nicht geben.
Das Erkennen von Insights aus der Datenanalyse und das Definieren der dazu passenden Regeln müssen heute und auf absehbare Zeit hochqualifizierte Menschen leisten. Würden alle Marktteilnehmer die gleichen Algorithmen ohne menschlichen Input nutzen, erhielten sie ähnliche Ergebnisse. Entscheidend für den Kampagnenerfolg bleibt deshalb auch in Zukunft die Kombination aus menschlichem Verstand und intelligent programmierten, selbstlernenden Algorithmen.