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Online-Apotheken werden kritisch gesehen
Sonstiges 17.05.2017
Sonstiges 17.05.2017

Apotheken im Web Online-Handel: Ein Zukunftsrezept für Apotheken

Verbieten oder fördern? Viele Apotheker sehen die Online-Konkurrenz kritisch und als Gefahr für die Preisbindung rezeptpflichtiger Arzneien.

BVDVA

Verbieten oder fördern? Viele Apotheker sehen die Online-Konkurrenz kritisch und als Gefahr für die Preisbindung rezeptpflichtiger Arzneien.

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Neue Ansprüche von Patienten und Käufern, wachsende Spezialisierung der Apotheken, elektronische Vertriebswege: Die Anforderungen an Apotheken ändern sich. Ein Markt zwischen Beharren und Aufbruch.

Hü oder hott? Das Landgericht in Lüneburg erlaubt den "Wir leben"-Apotheken vor Ort einen Treuebonus für Kunden in Höhe von 50 Eurocent, die Apothekenkammer Niedersachsen aber verbietet ihn mit Zustimmung des Lüneburger Verwaltungsgerichts. Doch es geht hier nicht nur um 50 Cent: Gestritten wird um die Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneien, ­indirekt auch um E-Commerce und Versand, vor allem aber um die Zukunft eines Berufsstands. "Das Bild der Apotheke verändert sich stark, auch durch die Digitalisierung und den Versand", beobachtet Dirk Düvel, Apotheker aus Marschacht bei ­Lüneburg. "Diskutiert wird nicht nur über Präsenz und Versand, sondern auch um einen Richtungswandel: Sind Apotheker Heilberufler mit Kleinstbetrieben oder Gesundheitsunternehmer, sind sie Service Provider und Berater oder Kaufleute."

Seit Jahren werden im Richtungsstreit der Apotheker Gerichte und Politik bemüht: 2004 fiel zunächst das Online- und Versandverbot, 2011 dann die Preisbindung für Arzneien zur Selbstmedikation. Das hat das Kaufverhalten verändert - 2016 versorgten sich laut einer Umfrage des Bitkom-Verbands 31 Millionen Bundesbürger online mit Arzneien. Sie bestellen jetzt öfter mobil, gerne am Wochenende und abends, auch im Ausland. Dort aber gerät gerade die letzte Bastion der Apotheker unter Druck: die Preisbindung für ­verschreibungspflichtige Arzneien. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Apotheken im Ausland davon befreit. Seither räumen Versandapotheken in den Niederlanden deutschen Patienten ­Rabatte von bis zu 30 Euro pro Rezept ein: "Ich ­habe bisher nichts von Umsatzeinbrüchen in deutschen Apotheken gehört", berichtet der Bremer Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske von kurzfristigen Folgen.

Versandverbot als Schutz für die Preisbindung

Das aber könnte sich ändern: Noch kaufen Kranke zwar Rezeptpflichtiges vor Ort, weil sie schnell gesund werden wollen. Animieren aber die Krankenkassen einmal ihre Versicherten zum Sparen und empfehlen die billigeren Quellen im Ausland, haben die hiesigen (Online-)Apotheken das Nachsehen. Folglich fordert ein Teil das generelle Versandverbot, um damit die Preisbindung zu schützen. Andere versuchen, diese gerade zu Fall zu bringen - auch indem sie mit 50-Cent-Rabatten Gerichtsverfahren und damit neue Urteile oder Regeln provozieren.

Gut 50 Milliarden Euro werden mit dem Verkauf von Medikamenten im Jahr umgesetzt

Von den gut 50 Milliarden Euro, die im Jahr mit dem Verkauf von Medikamenten umgesetzt werden, entfallen 85 Prozent auf verschreibungspflichtige Arzneien

Grafik: Internet World

Es geht um Milliarden: Mehr als 50 Milliarden Euro setzen die rund 20.000 Apotheken in Deutschland pro Jahr mit dem Verkauf von Medikamenten um. 85 Prozent davon entfallen auf die rezeptpflichtigen Arzneien - die Haupterlösquelle aller Apotheken: "Hier erreicht der Versandhandel nur einen Anteil von rund 1,5 Prozent", sagt Glaeske. Doch Tabletten und Tropfen, die es ohne ­Rezept, sind seit 2004 zur Domäne der Versender gewachsen. In diesem Segment werden die Preise frei ­gestaltet und sind Rabatte erlaubt. Folge: Bis zu 15 Prozent der apothekenpflichtigen und frei verkäuflichen Medikamente werden zwischenzeitlich online bestellt. Dasselbe gilt für Gesundheitsprodukte und Kosmetika, an denen die Apotheken weitere fünf Milliarden Euro im Jahr verdienen.

Etwa 3.000 Apotheken in Deutschland haben seit 2004 einen Online-Ableger ­gegründet. Laut Bundesverband Deutscher Versandapotheken (BVDVA) ­betreiben 150 von ihnen einen "ernst zu nehmenden Versand", der mehrere Millionen Euro Umsatz pro Jahr bringt. Dirk Düvel gehört zu diesen Unternehmern, er setzt auf Spezialisierung und Kooperation: "Es gibt eine Reihe von Erkrankungen, ­gegen die es keine standardisierten Medikamente gibt. Sie werden individuell hergestellt und verschickt", berichtet er.

Düvel besitzt in Marschacht und Lüneburg vier Apotheken, eine von ihnen ist auf die Krankheit Spina Bifida spezialisiert und verschickt ihre Rezepturen in ganz Deutschland. Ähnliche Spezialisten gibt es für Krebs, Migräne oder Darmkrankheiten. Im Hinblick auf ihre lebenswichtige Aufgabe hat die Politik vor Kurzem das generelle Versandverbot für Apotheken, das der Branchenverband ABDA sowie die CDU unterstützten, zunächst abgelehnt. Ganz vom Tisch ist es dennoch nicht: Viele Apotheker möchten ihr Geschäft erhalten.

Apothekenversorgung in Europa

Mit 25 Apotheken auf 100.000 Einwohner liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld der Versorgungsdichte. Hier sind seit 2004 Online-Apotheken erlaubt, in sieben Ländern (hellblauer Balken) indes nicht.

Grafik: Abda/DAZ

Nebenbei betreibt Düvel die Online-Apotheken Paul Pille und Besamex - rechtlich gesehen sind das allerdings keine selbstständigen Betriebe, sondern die Versand­abteilungen seiner Präsenzapotheken: "Der Großteil der Bestellungen kommt aus Ballungszentren, auch an Wochenenden wird mehr bestellt", beobachtet Düvel. "Die Telefonberatung wird intensiver ­genutzt, sie ist diskreter als die vor Ort." Wie die Versender im Ausland geben die hiesigen Konkurrenten Verschreibungspflichtiges nur dann aus, wenn die Kranken das Originalrezept einschicken. Das aber braucht Zeit: Mithilfe von Scans, Apps, Fax oder auch Pillen-Abos verkürzen die Online-Apotheken Lieferzeiten, Botendienste stellen zudem Arzneien aus den Filialen am gleichen Tag zu und nehmen das Rezept gleich mit. Wie in anderen E-Commerce-Segmenten arbeiten auch die Online-Apotheken an kurzen, komfortablen Lieferungen.

Auslaufmodell Einzel-Apotheke

Düvels Filialen sind außerdem Teil der "Wir leben"-Kooperative von insgesamt zwölf Apotheken im Lüneburger Raum. Der Verbund beschäftigt 400 Mitarbeiter, ­darunter 40 angestellte Pharmazeuten und ebenso viele Pharmazeutisch-technische Assistenten. Er leistet sich eine Telefon­beratung rund um die Uhr. Umsätze veröffentlicht der Verbund nicht, die Hälfte aber entfällt auf das Online-Geschäft. Solche Kooperationen machen Schule. Hier bündeln immer mehr Apotheker Wissen, Personalkapazität und Einkaufsmacht - und sie sorgen damit für den Tag vor, an dem die Preisbindung fällt.

Denn im Verbund können sie besser mit Pharmahersteller verhandeln und Mengenrabatte beim Einkauf erreichen. Als Auslaufmodell erweisen sich indes die Einzel-Apotheken mit zwei, drei Angestellten und einem Jahresumsatz um zwei Millionen Euro: Ihre Zahl sinkt seit einigen - trotz der Preisbindung und trotz des Schutzes, den die Apotheken weiter genießen. Viele Apotheker wollen an diesem Modell festhalten. Patienten werden daher in den nächsten Monaten weiter über Rechtsstreit und Urteile rund um Boni und Rabatten hören und lesen. "Kunden kaufen Medikamente so ein, wie sie wollen", hält Düvel der Streitlust und Regelwut entgegen. "Die meisten bestellen mal online, mal vor Ort. Sie fordern eine hohe Verfügbarkeit von möglichst vielen medizinischen Produkten, eine schnelle Zustellung der Ware sowie eine schnelle Reaktion auf ihre Fragen und Bestellungen."

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