Big Data und Mobile beschleunigen die Auflösung gewohnter Handelsstrukturen. Was die Zukunft bringen wird, ist in Laboren und Boutiquen schon zu sehen.
"Hallo", sagt die Stimme beim Griff zur Weinflasche im Regal. "Ich bin ein Chardonnay aus Italien, schmecke nach Walnüssen und Beeren und passe zu einem Pastagericht oder Fisch." Liegt die Flasche im Einkaufswagen, wird die Position "Weißwein" auf dem am Griff des Einkaufswagens angebrachten Display gestrichen.
Die Einkaufsliste wurde zuvor vom Smartphone eingelesen und zum Teil vom Kühlschrank erstellt, der wieder mit Milch, Butter, Eiern und Weißwein bestückt werden will. Das Smartphone kennt die Allergien in der Familie. Wird es vors Regal gehalten, erscheinen auf dem Display über den Müslipackungen, die Nüsse und Gluten enthalten, rote Striche. Eine Kasse gibt es nicht, an der Schranke am Ausgang wird bargeldlos mobil bezahlt, auf dem Display am Wagen werden die Einkaufsliste und der Kassenbon ausgecheckt.
Digitalisiert, vernetzt, bequem für die Kunden und effizient für die Verkäufer: Wie der Handel in zehn, 20 Jahren funktioniert, zeichnet sich jetzt ab. "Erste Küchen- und andere Geräte sind mit dem Internet vernetzt", erklärt Gerrit Kahl, Leiter des Innovative Retail Lab (IRL), das der Lebensmittelhändler Globus mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz betreibt. "Die Technik ist da, diese Daten in den Handel zu bringen und daraus ein Einkaufserlebnis ohne Medienbrüche zu bauen."
Wie das IRL bieten Universitäten und Forschungsinstitute im Verein mit Dienstleistern, Technologieanbietern und Händlern oder Marken einen ersten Blick in die Zukunft. Die Digitalisierung von Boutiquen und Supermärkten durch den Einsatz von Displays und Terminals, von RFID-Chips und Sensoren an Produkten und Regalen sowie Funksendern und neuen Schnittstellen ist nur ein Teil des Zukunftsszenarios.
"Handel und Herstellung verschmelzen zu einem Geschäft", skizziert Olaf Rotax, Geschäftsführer der Beratung D-Group, seine Vision. "Die Städte verändern sich substanziell: Mittel- und Kleinstädte verlieren an Kundenfrequenz, Metropolen locken mit Flaghship-Stores und Showrooms für Produkte." Stefan Wolpert vom Fraunhofer-Institut für Supply Chain Services, Betreiber der Service-Manufaktur Josephs in Nürnberg, malt das Bild weiter: "Virtual Reality wird das Kauferlebnis online und offline erweitern und anreichern."
Digitale Perspektiven ermöglichen ganzheitliches Kauferlebnis
Online-Shops zeigen ihren Kundinnen dann nicht mehr nur den Bikini, sondern auch, welche Figur sie darin etwa am Ostsee-Strand machen würden. Im Geschäft ergänzen interaktive Spiegel schon heute das Spiegelbild mit der anprobierten Hose um ein passendes Jackett, in Zukunft wohl auch um das Hemd oder den Pulli, den der Käufer sich laut Kundenkarte oder App früher einmal zugelegt hat.
"Die Digitalisierung ist die größte Herausforderung des Handels seit Einführung der Selbstbedienung", sagt Gerrit Heinemann, Leiter des E-Web Research Centers der Universität Niederrhein. "Der Kunde lässt sich nicht mehr zwingen, im Laden zu kaufen." Er kauft überall - online, offline, via Fernseher, im Zug, auf der Straße -, lässt liefern, holt ab, nimmt mit: je nach Belieben.
Bis vor Kurzem erfolgte der Prozess der Entscheidungfindung für den Kauf stets in Läden, heute ist er in bis zu 19 Informations- und Handlungsschritte untergliederbar: im Internet entdeckt, im Kino gesehen, mit Freunden diskutiert, im Laden ausprobiert, Mobile mit ähnlichen Produkten verglichen. Für den Verkäufer heißt das: Wann und wo der Verbraucher letztlich zuschlagen wird, ist nicht mehr vorhersehbar.
Das verändert die Werbung und auch den Vertrieb: "Die Kundenreise wird stärker technisch unterstützt, Händler werden zur Informationszentrale und zum Geldbeutel", sagt Frank Danzinger, Leiter des Josephs in Nürnberg. "Technik wird den Handel nicht vollständig revolutionieren; es kommt darauf an, Technik und persönliche Ansprache clever zu mixen."
Der Kunde selbst unterscheidet nicht zwischen den Kanälen. Die Zukunft heißt Omnichannel. Einzelhändler müssen jetzt online Flagge zeigen - und reine Webhändler werden bald gezwungen sein, in die Fläche zu expandieren.
"Wer als Händler nur wenige Berührungspunkte für die Customer Journey bietet, fliegt bei der Kaufentscheidung raus", erklärt Rotax. Während Einzelhändler mit Webshops, über Marktplätze und Apps ins Internet drängen, experimentieren Amazon, Zalando, Mymuesli und andere Internet-Marken mit Pop-up Stores und Filialen.
Der Kaufakt als Ziel verliert an Bedeutung. Im Internet zeigen die Betreiber von Marktplätzen und Vergleichsportalen oder Dienstleister wie Stylight, die Interesse wecken und dann zum Anbieter leiten, dass es nicht mehr nur um den Verkauf der Ware geht. "Es geht um mehr Service und Erlebnis - online wie offline", sagt Christian Rößler, Leiter des Weshop der Agenturgruppe Serviceplan und ihrer Partner. "Der Point of Sale muss zum Point of Service werden."
Dienstleistung von Mensch zu Mensch ist die Zukunftschance des Einzelhandels. Obwohl die Verbraucher heute alles im Internet bestellen könnten, flanieren sie weiterhin über Einkaufsmeilen: Immer mehr Flagship-Stores machen dort Markenwelten erlebbar. Boutiquen werden durch Kaffee- und Lounge-Ecken zu Treffpunkten. "Showrooming wird ein Geschäftsmodell", stellt Rößler in Aussicht. Händler vermieten dafür Präsentationsflächen oder lassen sich für Beratung bezahlen. Geordert und gekauft wird per Tablet, Smartphone oder Wearable.
Digitale Perspektiven treiben Herstellung und Handel voran
Heidi.com und Hointer etwa haben daraus bereits ein cooles Boutiquenkonzept entwickelt. Die Filialkette Liberty Woman zeigt, dass sich Warenschauplätze in kleinen Städten halten können. Und Emmas Enkel, ein Start-up aus Düsseldorf, definiert die Funktion "Nahversorgung" neu: mit Filialen, die ein Sortiment von rund 3.500 Produkten vorhalten und dieses online sowie durch Lieferdienste verlängern.
Aufgrund des Kostendrucks im Lebensmittelmarkt entwickeln sich Supermärkte entweder zu Genusstempeln mit Show, Service und Verkostung oder zu automatisierten Abholstationen. Sensoren melden, wann Roboter Regale auffüllen sollen und wie sie Waren platzieren. Displays sorgen für Kundenansprache. Im Umfeld dieser Märkte siedeln sich Dienstleister wie Bringdienste oder Reinigungen an.
Mehr noch als die Digitalisierung in Geschäften forciert das mobile Internet den datenbasierten Handel: Wie die Kunden, die mit Smartphone oder Tablet surfen, senden inzwischen auch RFID-Chips und andere Sensoren auf den Produkten, Beacons in den Läden und an Plakaten und selbst Automaten und andere Maschinen Daten ins Netz: Damit lässt sich das Kundenverhalten immer besser analysieren und der Abverkauf steuern - online wie offline. "Der herstellereigene Handel und die Vertikalisierung von Marken nimmt zu", beschreibt Heinemann die Folgen.
Daten werden immer begehrter. Vielleicht wird "der Handel sie als weitere Einkommensquelle entdecken", meint IRL-Leiter Kahl. Die Hersteller passen auf Basis von Absatz- und Kundendaten ihre Produktion und die Warenströme an oder personalisieren Angebote.
Marken investieren daher bereits kräftig, um das "Gold der Zukunft" in eigenen Stores, Outlets, Apps und Webshops selbst zu schürfen. Umgekehrt sichern sich die Filialisten Produktionskapazitäten für ihre

Olaf Rotax: Gründer und Geschäftsführer D-Group Hamburg
Marken. "Der Kauf und Weiterverkauf anonymer Waren verliert immer mehr an Bedeutung", sagt Rotax.
Eine faszinierende Vision: Bestellungen direkt ans Band, um mit wenigen Handgriffen mehr - etwa Aufdrucke oder Zusatzteile - ein individuelles Produkt zu schaffen. Durch Installations- und Wartungsservice wird sogar eine Waschmaschine zum einzigartigen Angebot. Lebensmittel lassen sich nach Kundengeschmack und medizinischen Forderungen zusammenstellen. Das ist alles schon Alltag: bei Start-ups, die mit Mass Customization experimentieren, und bei Marken, die online Massenware individuell konfigurieren lassen.
Die offenen Fragen zur Zukunft des Handels
Zu Faszination gesellt sich auch Beklemmung: In einem Handel ohne Medienbrüche hantieren Händler-Hersteller mit sehr sensiblen Personendaten. Die Kunden fühlen sich schon heute überwacht. "Es fehlt ein dominantes Design für den Umgang mit Daten", so Josephs-Chef Danzinger.
"Wir haben keine Institutionen, die das zentralisiert übernehmen und Regeln entwickeln." Handel, Verbraucher und Politik sind gefragt, endlich zu klären, welche Bedürfnisse bestehen, und Normen zu formulieren.
Auch auf Informatiker und Programmierer kommt viel Arbeit zu: RFID-Chips etwa sind als Datenvehikel im Lebensmitteleinzelhandel zu teuer, sie funktionieren nur begrenzt, wenn sie mit Metall oder Feuchtigkeit in Kontakt kommen. Viele der in Zukunftslaboren gezeigten Tools und Techniken sind nicht an die Geschäftsprozesse angeschlossen. Hier beginnt der Kraftakt für den Handel: Es muss enorm aufgerüstet werden - technisch und personell. "In Deutschland haben viele Händler noch kein elektronisches Warenwirtschaftssystem", bemängelt Heinemann, "und nicht einmal die Hälfte der Online-Shops ist heute mobil."
Noch wird der entstehende Investitionsbedarf unterschätzt. Noch verweigern sich die Händler den bereits erkennbaren Möglichkeiten, dabei müssten sie längst mit Zukunftstechniken experimentieren und an neuen Konzepten feilen. Die Kunden jedenfalls gehen bereits die ersten Schritte in die Zukunft des Handels.
Josephs und der Warenschauplatz von eBay, Metro und Paypal
Kaufen im Inspiration Store
eBay, Metro und Paypal präsentierten drei Monate lang den Inspiration Store als Warenschauplatz: Auf Podesten und Theken führten sie wechselnde Sortimente vor - Mode, Wellness, Elektronik. Displays und Apps lieferten Produktinfos und tagesaktuelle Preise sowie den Link zum Internet.

Mit mobilen Geräten wurde die Ware nach Hause oder zum Mitnehmen in den Laden bestellt - und natürlich auch bezahlt. Über kostenloses WLAN wurde gratis die Verbindung zum Internet hergestellt. Vorträge und Studien flankierten den Inspiration Store, mit dem das Trio die Zukunft des Handels zeigen und diesen vorantreiben will.
www.zukunftdeshandels.de
Kunden und Technik im Josephs

Ein Kaffee, Vorträge und viel neue Technik: Am Rand der Nürnberger Einkaufszone lädt das Fraunhofer-Institut im Josephs zur aktiven Pause ein. In anregender Atmosphäre sollen Besucher Internet- und Verkaufstechnologien ausprobieren - und verbessern helfen: etwa den Gestenerkenner, den Schrittzähler zur Analyse von Kaufverhalten, Apps oder 3-D-Drucker. Firmen und Forscher prüfen und diskutieren hier wie Verbraucher mit Internet- und Sensortechnik umgehen und sollen mit ihnen Ideen für mehr Anwendungsszenarien entwickeln.
www.josephs-service-manufaktur.de
Innovative Retail und Serviceplan
Ideen vom Innovation Retail Lab
Aus RFID-Chips, Funk- und WLAN-Technik sowie Schnittstellen zu Warenwirtschaftssystemen und Haushaltsgeräten entwickeln die Universität Saarbrücken, der Lebensmittelhändler Globus sowie das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz neue Handelstechnologien, die im Innovation Retail Lab präsentiert werden.

Es wird gezeigt, wie sich Kundenströme im Laden analysieren und steuern lassen und wie (Obst-)Regale auch automatisiert gefüllt werden können. Der interaktive Rollwagen ist mit der Einkaufsliste auf dem Smartphone und dieses wiederum mit dem Kühlschrank zu Hause verlinkt. So "weiß“ die Technik, was der Kunde braucht.
www.innovative-retail.de
Digitale Technik für mehr Beratung im Weshop
Ladenbauer Vitra, die Agentur Serviceplan und mehrere Technikpartner haben den Weshop gebaut: eine Markenboutique, in die alle Kundenkanäle führen. Für die Websuche zu Hause bietet sie den Livechat mit Verkäufern und fürs Anprobieren interaktive Spiegel.

App oder Kundenkarte speichern die Kaufhistorie; so können Berater besser empfehlen und beraten, aber auch Aktionspreise individuell ausgeben. Mit Bildschirminhalten, Licht und Akustik lässt sich die Stimmung je nach Zielgruppe gestalten: Leise und dezent mögen es die Älteren, laut und schrill die Jüngeren. www.serviceplan.com
Hointer und Heidi.com
Hointer: Mode von der Stange
"Hointer ist mehr Showroom als Laden", erklärt die Mathematikerin und Gründerin Nadia Shouraboura. Außerdem wird für die Realisierung des Konzepts wenig Personal benötigt: Den Kunden wird die Mode präsentiert, weitere Informationen liefert dann die Hointer-App, über die das passende Modell in die Kabine geordert wird.

Interaktive Spiegel zeigen Kombinationsmöglichkeiten. Was nicht gefällt, kommt in den Rückgabekorb und wird damit auf der App ausgebucht. Am Ende zahlt der Kunde mobil und nimmt die Waren mit - oder lässt liefern. Shouraboura baute für Amazon das Fulfillment auf, mit Hointer will sie nun innovative Ladenkonzepte entwickeln.
www.hointer.com
Heidi.com: Sortiment und Öffnungszeiten online verlängern

Auf zwei Quadratmetern ein Sortiment präsentieren: Die Schweizer Modemarke Heidi hat dafür den "Virtual POS“ entwickelt und in Neuchâtel aufgebaut. Stararchitektin Zaha Hadid entwarf die Bauelemente, Samsung liefert die Technik für die Terminals und das Display: Mit ihnen wird das Sortiment online verlängert, nach Ladenschluss kann noch am Schaufenster bestellt werden. Kaffee- und Buchecke gehören zum Store wie Pop-up-Flächen, auf denen kurzfristig Marken oder Designer Modeideen, Accessoires oder Kunst präsentieren.
www.heidi.com