
Im E-Commerce aufholen Corona beschleunigt die Digitalisierung: Was der Handel beachten muss
Der Handel wird nach der Corona-Krise nicht mehr derselbe sein wie zuvor. Eine solche Erschütterung birgt aber auch viel Potenzial: Gerade die seit Jahrzehnten etablierten Handelsketten haben jetzt die - vielleicht einmalige - Chance, im E-Commerce endlich aufzuholen.
Von Carsten Kraus, Gründer der Omikron Data Quality GmbH
Geschlossene Läden, verwaiste Innenstädte - und Kunden, die fast ausschließlich online einkaufen. Dass wir dieses Szenario bereits im Frühling 2020 sehen, haben nicht einmal die mutigsten Thesen über die Etablierung des E-Commerce vorausgesagt. Und auch, wenn dieser Zustand nur vorübergehend und durch den Shutdown verursacht ist - der Handel wird nach der Corona-Krise nicht mehr derselbe sein wie zuvor.
Offline wird es vermutlich schwer haben, zu alter (Rest-)Stärke zurückzufinden. Die Online-Umsätze hingegen werden noch schneller wachsen als in den letzten Jahren. Dabei profitiert längst nicht jedes E-Commerce-Unternehmen von der Krise. Denn das Verhalten der Konsumenten ändert sich nicht nur dahingehend, in welchem Kanal sie kaufen - sondern auch, in welchen Kategorien und von welchen Marken.
Das Thema Vertrauen in bekannte Namen ist bei Konsumenten derzeit so wichtig wie nie zuvor, besonders wenn Online Shopping für sie Neuland ist. Deshalb sind es gerade die seit Jahrzehnten etablierten Handelsketten, die jetzt die - vielleicht einmalige - Chance haben, im E-Commerce endlich aufzuholen.
Gelegenheiten gab es bisher in jeder Krise
Blicken wir kurz zurück in das Jahr 2003. Damals hatten die Menschen mit einem anderen Corona-Virus zu tun: SARS-CoV-1. Die SARS-Epidemie führte insbesondere in China, dem am stärksten betroffenen Land, zu wirtschaftlichen Einschränkungen, die auch der stationäre Handel deutlich spürte.
E-Commerce war damals natürlich alles andere als etabliert, weder im Konsumentengeschäft ("B2C") noch im Großhandel ("B2B"). Doch in der Folge der Epidemie taten sich besonders zwei Unternehmen als Vorreiter und Treiber des Online-Handels hervor: JD.com und Alibaba. Beide haben die damalige Krise genutzt, um zu den Top-Playern im chinesischen E-Commerce zu avancieren.
JD.com war eine Ladenkette in Peking, deren internationale Wachstumspläne durch SARS zunächst zunichte gemacht wurden. Der Gründer Richard Liu kam jedoch auf die Idee, den chinesischen Instant-Messaging-Dienst QQ zu nutzen, um seine Elektronik-Angebote sichtbar zu machen. Mehr und mehr investierte er in den Online-Kanal und startete einige Monate später seine eigene digitale Vertriebsplattform.
Alibabas Geschäft im B2B-E-Commerce nahm Fahrt auf, nachdem alle Business-Flüge nach China gestrichen wurden. Denn diese Maßnahme der Regierung brachte Alibaba einen großen Zustrom an Online-Nutzern und Traffic. Basierend auf den Erkenntnissen aus dem B2B-Vertrieb entstand dann 2003 Alibabas C2C-Marktplatz Taobao, der in der Folge den damals fest etablierten Player eBay 2005 aus dem Markt verdrängte.

Carsten Kraus, Gründer der Omikron Data Quality GmbH
Omikron Data Quality GmbH
Brotbackmaschine statt Bikini
Heutzutage ist E-Commerce in den Industriestaaten fest etabliert. Doch wie verändert die jetzige Krise das Konsumentenverhalten? Die 1.600 Online Shops unserer Kunden kommen aus allen Branchen, daher ergab sich im Gespräch mit unseren Anwendern ein differenziertes Bild: Auf der einen Seite stehen Händler wie Mode- und Schmuckanbieter, denen die Anlässe wegfallen. Denn ohne Abendevent oder Abschlussfeier werden auch weniger Abendkleider gekauft. Und wenn der geplante Sommerurlaub ins Wasser fällt, wird logischerweise auch der neue Bikini nicht bestellt.
Auf der anderen Seite gibt es die typischen Gewinner wie E-Food-Händler, Apotheken und Shops für Baby-Artikel. Wir hören aber auch von Fahrradhändlern, dass sie mehr verkaufen, weil viele Menschen nicht mehr mit den Öffentlichen fahren möchten. Dann gibt es Shops für Bastelbedarf und Spielzeug, die einen Boom erfahren, weil die Kinder zuhause beschäftigt werden müssen. Und wir erfahren von Hamsterkäufen in deutschen B2B-Shops für Ersatzteile, weil Werkstätten Angst haben, nicht mehr aus dem Ausland beliefert zu werden. Insgesamt sehen wir seit Mitte März einen Traffic-Anstieg um 15,3 Prozent verglichen mit den Vorwochen - Tendenz steigend. Da rund ein Drittel des deutschen E-Commerce über Shops mit unserer Technologie läuft, ist unser Bild vermutlich repräsentativ.
Unsere deutschen Beobachtungen decken sich zu einem großen Teil mit Daten aus dem US-amerikanischen Markt vom Technologie-Anbieter Stackline. Ein interessanter - aber durchaus nachzuvollziehender - Funfact der Studie: Brotbackmaschinen sind auf Platz zwei der 100 am schnellsten wachsenden E-Commerce-Kategorien von März 2019 bis März 2020.
Abhängigkeit von Plattformen zeigt ihr ganzes Ausmaß
Was wir in den Gesprächen mit unseren Kunden auch erfahren, sind die Auswirkungen der Abhängigkeit von großen Marktplätzen: Einige beklagen, dass Amazon jetzt sein Sortiment verändert und bei ihnen nichts mehr bestellt beziehungsweise nicht mehr ihre Produkte abverkauft, sondern andere. Wenn die Absätze über Amazon oder den Amazon Marketplace eine große Rolle spielen, merkt man spätestens jetzt, wie sehr man auf sie angewiesen ist. Ähnliche Auswirkungen gab es in der Vergangenheit bei Hoteliers, die sehr abhängig von Buchungsplattformen (Booking.com, HRS, zum Teil auch AirBnB) geworden sind. Wer auf den großen Plattformen Positionen verloren hat, weil der Algorithmus gerade jemand anderen bevorzugt, bekommt Probleme. Umso mehr, wenn es im jeweiligen Markt eine einzige dominante Plattform gibt.
Vermutlich wird die Krise den Plattformen noch mehr Kunden in die Hände treiben. Zalando zum Beispiel bietet jetzt ein Marktplatz-Konzept an, bei dem stationäre Händler einsteigen können - analog zu Amazon Marketplace. Das Bedürfnis der Kunden nach Vertrauen ist groß: Wer noch nie online eingekauft hat, es jetzt erstmals tut, sucht sich Namen, die er kennt. Das gibt Sicherheit.
Genau das ist aber eine große Chance für die stationären Handelsketten, ihre Kunden jetzt online, abseits der etablierten Plattformen, zu gewinnen: Galeria KarstadtKaufhof, Lidl, Deichmann - die Namen kennt jeder, und das Vertrauen ist da. Zwar haben viele bereits Digitalprojekte durchgeführt, die meisten können aber trotzdem noch enorme Potenziale im E-Commerce heben.
Wie sollten Marken wie diese jetzt am besten vorgehen, um ihr Online-Wachstum anzukurbeln?
5 Schritte zum digitalen Erfolg für Handelsketten
Wie können stationäre Retailer, basierend auf ihren Stärken, den Schritt in den E-Commerce erfolgreich gestalten? Um den Vorteil des Vertrauens zu bewahren, ist das Wichtigste, auf allen Verkaufskanälen ein konsistentes Markenerlebnis zu schaffen.
Während der Krise
1. Schaffen Sie eine Online Experience nach neuesten Standards
Beim Aufbau Ihrer Online-Plattform sollten Sie nicht versuchen, das Rad neu zu erfinden, egal, um welchen Aspekt des Online Shoppings es geht: Ob Traffic-Generierung, Product Discovery oder Check Out; es gibt Best Practices, die seit Jahren erfolgreich eingesetzt werden. Nutzen Sie diese für sich. Und scheuen Sie sich nicht davor, bei Kollegen aus dem E-Commerce zu kopieren.
Ein besonderes Augenmerk sollten Sie auf die Product Discovery legen - also der Phase, in der Kunden versuchen, im Shop das Richtige zu finden. Je nach Warensortiment geschieht das vorwiegend über die Suche (etwa bei Büchern zu 95 Prozent) oder über die Navigation (zum Beispiel bei Mode, dort wird die Suche nur zu etwa 30 Prozent genutzt).
Analysieren Sie den Markt genau, ziehen Sie Experten zu Rate und setzen Sie das Gelernte um - und zwar so, dass es zu Ihrer Marke passt. Durch dieses Vorgehen erzielen Sie den besten ROI. Denn differenzieren sollten Sie sich nur dort, wo Sie es können - dort, wo Ihre Stärken liegen. Das ist - wenn Sie dort neu sind - nicht der Aufbau des Online Shops.
2. Lernen Sie aus dem Verhalten Ihrer Kunden (Oder lassen Sie KI lernen)
Was Besucher in digitalen Verkaufskanälen gesucht, angeklickt und gekauft haben, sagt einiges aus über individuelle Wünsche und Interessen sowie über allgemeine Nachfrage-Highlights. Im Webshop können Sie all das tracken. Nutzen Sie diese Informationen, um Ihr Sortiment zu erweitern, die Suchergebnisse zu optimieren und Marketing-Aktivitäten zu personalisieren.
Nach der Krise
3. Führen Sie Ihre Online-Besucher in die stationären Märkte
Sind die Läden nach und nach wieder geöffnet, sollten Sie die den ROPO-Effekt (Research online - Purchase offline) für sich nutzen: Immer mehr Kunden betreiben vor dem Besuch des Ladens Produkt-Recherche. Wer das tut, tätigt beim Besuch deutlich häufiger einen Kauf und hat einen höheren Bonwert (der im Online Shop Warenkorbwert heißt).
Wenn Sie gute und hilfreiche Informationen liefern, motivieren Sie Ihre Online-Kunden zum Besuch im Laden. Das ist eine große Chance, um Kunden kanalübergreifend zu binden und Umsätze zu steigern.
4. Vernetzen Sie Online- und Offline-Kanäle
Setzen Sie in diesem Schritt auf Ihre Stärken als stationärer Händler. Sind Sie zum Beispiel Mode-Retailer und verfügen über eine schnelle Logistik, aber nicht über genügend Platz, um Ihr gesamtes Sortiment im Laden anzubieten? Mit Instore-Terminals können Kunden bequem im Laden die ausverkaufte Größe bestellen und sie sich nach Hause oder in Ihren Laden liefern lassen.
Das ermöglicht es, das Sortiment offline vielfältiger zu gestalten, da nicht mehr jede Farbe in jeder Größe vor Ort verfügbar sein muss. Anprobieren geht auch mit der anderen Farbe.
Eine einfach umsetzbare Variante: Statten Sie Ihre Mitarbeiter mit iPads aus, mit denen sie auf den Online Shop verweisen können. Im stationären Geschäft sind Ihre Mitarbeiter Ihr Kapital. Sensibilisieren Sie sie und binden Sie sie in den Transformationsprozess ein, damit sie die Brücke zum Online-Kanal bilden.
5. Nutzen Sie das volle Potenzial Ihres stationären Markts
Vergessen Sie nie, was Ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber Online Pure Playern ist: ihr stationäres Geschäft! Seien sie sich dieses Potenzials bewusst und erschaffen Sie ein Einkaufserlebnis, das Ihren Kunden Spaß macht.
Dazu gehören die drei A der Live Experience: Anfassen, Anprobieren, Ausprobieren. Ein "Bitte die Ware nicht berühren" oder nur in Kartons verpackte Artikel reduzieren zwar Ihre Ladenkosten, Sie verzichten dann aber auf einen entscheidenden Differenzierungsvorteil gegenüber Online Pure Playern.
Nutzen Sie zum Beispiel den Offline Store gezielt als "Showroom" für den Online Shop, unterstützt durch Kundenevents wie Modenschauen, Autogrammstunden oder Auftritte. Wenn die Läden wieder öffnen, werden sich viele Kunden nach real-live Erlebnissen sehnen. Laden Sie online ein, aber veranstalten Sie live!
Legen Sie besonderes Augenmerk darauf, zunächst so viel wie möglich von E-Commerce-Best-Practices zu kopieren. Erst danach - wenn es darum geht, Ihre Verkaufskanäle zu vernetzen - sollten Sie innovativ sein.
Fazit: Die Krise kann der entscheidende Impuls sein
Verändertes Konsumentenverhalten, technologischer Fortschritt, Wachstum des Online-Handels: Vor allem diese drei Faktoren haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass es rein stationäre Händler immer schwieriger hatten, nachhaltiges Umsatzwachstum zu erzielen.
Selbst Entscheider, die diese sukzessive Entwicklung in den letzten Jahren ignoriert haben, können sich aber spätestens in der Corona-Krise nicht mehr davor verschließen, dass sie handeln müssen. Und in manchen Branchen ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, um in den E-Commerce zu investieren. Insbesondere, da sich viele Kunden erst jetzt an den Online-Einkauf gewöhnen, was beispielsweise auch die Eintrittshürde in den Lebensmittel-E-Commerce verringern könnte.