
Gastkommentar Warum das Marktplatz-Business sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat
Marktplätze gelten als das Nonplusultra im E-Commerce. Ihre Bedeutung hat immer mehr zugenommen, etablierte Player und neue Anbieter suchen nach dem nächsten Turbo-Boost fürs Marktplatz-Business. Welche Trends das Geschäft aktuell beeinflussen, erklärt Alexander Graf.
Von Alexander Graf, Seriengründer, E-Commerce-Unternehmer und CEO von Spryker
Soviel vorab: Das Marktplatz-Game ist noch lange nicht am Ende, vielleicht geht es gerade erst so richtig los. Das zeigt sich anhand immer neuer Anbieter, die ihr Glück versuchen. Die etablierten Player wie Amazon und eBay arbeiten - immer weniger erfolgreich - auch deswegen daran, ihren Kunden weiterhin die besten Angebote zu machen. Gleichzeitig gibt es technologieseitig Neuerungen, die Hersteller und Marken unabhängiger von Marktplätzen machen.
Da stellt sich die Frage: Quo vadis, Marktplatz-Business? Vier Thesen dazu:
Amazon ist kein Vorbild mehr
Wer "Marktplatz" sagt, muss auch "Amazon" sagen. Musste. Über Jahre galt der E-Commerce-Riese als unantastbar - aber der Nimbus lichtet sich. Zwar bekommt Amazon noch immer jeden zweiten E-Commerce-Euro in Deutschland, aber der Konzern verliert bei wachsender Größe die Bedürfnisse der Kunden aus den Augen, die längst auch anderswo - immer öfter auch direkt in den Shops von Marken - finden, was sie wollen.
Für Marktplätze ist ein breites Angebot wichtig, denn wer die Kunden hat, gewinnt. Das Versprechen von Marktplätzen an Hersteller und Marken, durch eine große Angebotsvielfalt sowie den Einsatz von Technologie viel mehr potenzielle Kunden bündeln und zum (wiederholten) Kauf bewegen zu können, hat nach wie vor Bestand. Und doch zeigt gerade Amazon etwa mit harschem Umgang mit den Sellern auf seinem Marktplatz, dass das Verhältnis keines ist, auf das man sich allein verlassen sollte.
Ebenso hat Amazon immer mehr Probleme, der Flut an Plagiaten oder schlicht fehlerhaften Produkten Herr zu werden. Ab einer bestimmten Größe des Marktplatzes scheint selbst die beste Technik Kontrolle nur in unzureichendem Maße zu ermöglichen. Marken wie Nike haben sich daher schon vor Monaten bewusst von der Plattform zurückgezogen.
D2C wächst doppelt so stark wie Marktplatz-Business
Trotz der bereits geschilderten, grundlegenden Marktplatz-Logik, nach der es einzelne Anbieter schwerer haben, Kunden in eigene Shops zu ziehen, lehne ich mich mit dieser Prognose für den Zeitraum 2025 bis 2030 aus dem Fenster.
Warum? Das Direct-To-Consumer-Business (D2C) hat in den vergangenen Jahren extrem an Fahrt aufgenommen. Das hat maßgeblich mit den Möglichkeiten der Produktwerbung über Influencer in den sozialen Netzwerken wie Instagram und TikTok zu tun, wodurch ganz gezielt in bestimmten Nischen, aber auch in der Breite Produkte beworben werden und bei entsprechender Shop-Infrastruktur der Marken vertrieben werden können.

Alexander Graf, CEO Spryker
Spryker
D2C-Player profitieren einfach stark von den Branding-Effekten, die ein Marktplatz für sich selbst niemals erzielen kann: Eine einzelne Brand hat mehr Chancen auf Liebe als eine Plattform. Schließlich würde ja niemand jemals einen branded Amazon- oder Zalando-Pullover tragen, oder?
Composable Commerce als Boost für D2C vs. Marktplatz
So reizvoll und nahezu notwendig die Präsenz für Marken auf Marktplätzen ist, so gefährlich ist sie auch. Denn die Kunden dort können nicht eng an die Brand gebunden werden. Wer sich zu sehr auf Marktplätze verlässt, hat auf Dauer keine Chance, weil er ersetzbar wird.
Also muss ein eigener Channel her. Da die Kunden immer mehr Funktionen auf Marktplätzen geboten bekommen oder über verschiedene Berührungspunkte hinweg fordern, müssen Händler, die sich im D2C-Segment behaupten wollen, flexibel sein. Das erfordert ein agiles technologisches Setup fürs Backend.
Composable Commerce schafft den Raum für diese Flexibilität, den eine Software-Lösung von der Stange nicht bieten kann. Hierbei können einzelne Tech-Module je nach Bedarf eingesetzt und jederzeit getestet beziehungsweise ausgetauscht werden.
Composable Commerce erlaubt es Marken, selbst rasant auf Kundenbedürfnisse bei technologischer Exzellenz zu reagieren. Der Vorteil von in diesem Sinne individuell zusammensetzbaren Shop- oder Marktplatz-Systemen liegt darin, dass die diversen Anwendungen entlang der Customer Journey nahtlos integriert werden können. Idealerweise basieren sie auf offenen Standards, was die Flexibilität weiter erhöht. Um mit Amazon und anderen E-Commerce-Größen konkurrieren zu können, wird Composable Commerce unerlässlich, aber eben auch extrem "empowernd" sein.
Bis 2025: Mehr B2B-Marktplätze als B2C-Marktplätze in DACH
Noch eine Prognose, diesmal wieder mit Fokus auf Marktplätze selbst: Im B2B-Bereich liegt die Zukunft! Während alle über Amazon, Alibaba und Co. sprechen und bei Marktplätzen an B2C-Modelle denken, passiert im B2B bereits jetzt eine Menge.
B2B-Marktplätze sind als direkte Reaktion auf die Bedürfnisse der Verbraucher:innen entstanden. Die Covid-19-Pandemie veränderte die Handelslandschaft sowohl für B2C- als auch für B2B-Unternehmen, beschleunigte die Digitalisierung und zwang die Unternehmen, sich anzupassen oder einen Misserfolg zu riskieren. Da sich die Kaufgewohnheiten im B2B-Bereich immer mehr denen im B2C-Bereich annähern, haben die Käufer entdeckt, wie bequem Marktplätze als Vertriebskanäle sind, und die Erwartungen an den direkten Kauf im B2B-Bereich steigen entsprechend.
Die Dynamik erklärt sich auch mit Blick auf das Potenzial: Ein B2B-Marktplatz ist je nach Branche lukrativ, weil es in vielen Nischen oft nur 10 bis 20.000 Unternehmenskunden gibt, die auf wenige Anbieter treffen. Wenn dann ein Anbieter, der zum Beispiel bereits 10 bis 20 Prozent des Marktes über klassische Kanäle bedient, in einen Marktplatz investiert, dann ist der Anreiz der Unternehmenskunden groß, einen "one-stop-marketplace" zu nutzen - und mit dem Handelsvolumen steigen die Umsätze. Sogar Manomano, klassischer B2C-Marktplatz, baut sein B2B-Angebot stetig aus, weil es auf Dauer lukrativer ist. Und: Aufgrund der Einzigartigkeit vieler Branchen ist anzunehmen, dass es nicht DEN B2B-Marktplatz geben wird, sondern eine Reihe von Playern, die in ihrer Branche ein Oligopol oder gar Monopol bilden werden.
Fazit: Das Marktplatz-Business ist noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten
Auch wenn Wachstumsschmerzen, D2C und andere Trends den Nimbus vom Marktplatz-Business lichten, so bleibt dennoch viel Potenzial nach oben. Wichtig ist, dass Marken und Hersteller eine Multichannel-Strategie fahren und sich nicht allein auf fremde Marktplätze verlassen. Oder - wie im Fall des B2B-Segments - den Mut aufbringen, selbst einen Marktplatz aufzubauen. In einem taugt Amazon dann doch noch als Vorbild: It’s still day 1.