
Produktbewertungen im Netz Was tun gegen die "Bewertungsflaute"?
Hört man sich unter Online-Händlern um, lautet die einhellige Meinung: Die Kundschaft bewertet Online-Käufe viel zu selten und wenn, dann unfair und negativ. Nicht alle Experten stimmen dem Abgesang auf das Bewertungssystem zu.
Anfang des Jahres wirbelte Amazon die Szene seiner Marketplace-Händler kräftig auf: Quasi über Nacht löschte der Marktplatz Zehntausende Kundenbewertungen. Die Aktion traf ausschließlich sogenannte "incentivierte Bewertungen" - also jene Meinungsäußerungen, die Händler aktiv ausgelöst oder beeinflusst hatten, beispielsweise durch die kostenlose Weitergabe von "Testexemplaren" an die Kunden, die sich im Gegenzug mit einer Bewertung revanchieren sollten.
Während die einen Händler über dieses harte Vorgehen vonseiten Amazons gegen die "Fake-Reviews" ihrer Konkurrenten jubelten, schlugen andere die Hände über dem Kopf zusammen: Manche Händler verloren im Rahmen der Aktion auf einen Schlag bis zu einem Drittel ihrer Bewertungen. Das hatte weitreichende Konsequenzen; schließlich sind Kundenbewertungen auf Amazon "eine wichtige Informationsquelle für unsere Kunden bei ihrer Kaufentscheidung", so ein Amazon-Sprecher. Deshalb hat die Anzahl der Bewertungen (egal ob positiv oder negativ) auch direkte Auswirkungen auf das Ranking der einzelnen Angebote in den Suchergebnislisten des Marktplatzes.
Neuer Strategiewechsel in Sachen Reviews
Ein knappes halbes Jahr nach dem aufsehenerregenden Rundumschlag gegen die umstrittenen incentivierten Bewertungen vollzog Amazon im Juni einen neuen Strategiewechsel in Sachen Reviews - und führte in den USA das "Early Reviewer System" ein. Und das funktioniert so: Marketplace-Händler, die neue Produkte einführen, können diese über das Sellercentral beim Early-Reviewer-System anmelden. Kauft nun ein Kunde eines der Produkte, die im Early-Reviewer-System angemeldet sind, kann es sein, dass Amazon ihn per E-Mail um die Abgabe einer Bewertung bittet. Kommt der Kunde der Aufforderung nach, bekommt er dafür einen Gutschein in einer Höhe zwischen einem und drei US-Dollar, egal, wie seine Bewertung ausfällt. Die Auswahl der Kunden erfolgt dabei völlig zufällig, die teilnehmenden Händler können keinen Einfluss auf die Auswahl nehmen. Nur Kunden, die in der Vergangenheit gegen die Amazon-Richtlinien für Bewertungen verstoßen haben, sind ausgeschlossen.
Für diese Wundertüte müssen Händler bezahlen: 60 Euro verlangt Amazon pro fünf Bewertungen über das Early-Reviewer-System, berichten Händler in den US-amerikanischen Amazon-Foren. "Das Programm wird meines Erachtens trotz der Kosten für Händler gut laufen", meint E-Commerce-Berater Peter Höschl, der sich das neue Reviewer-System für sein Blog Shopanbieter.de genauer angesehen hat. "Es stellt für die Verkäufer vielleicht noch die einzige Chance dar, um Bewertungen für neu eingeführte Produkte zu bekommen - wenn sie keine Fake-Bewertungen kaufen wollen, welche ja von Amazon mittlerweile hart abgestraft werden."
Kunden bewerten zu wenig und unfair - finden die Händler
Was Höschl da zwischen den Zeilen anspricht, ist ein Schreckgespenst, das schon länger durch die einschlägigen Händlerforen auf Facebook geistert: die "Bewertungsflaute". Gefühlt scheinen vor allem Amazon-Kunden, aber auch Online-Shopper allgemein immer weniger zu bewerten. Viele Händler berichten, dass von 100 getätigten Käufen maximal einer eine Bewertung nach sich zieht, andere feiern sich für Bewertungsquoten von 1,5 Prozent. Wieder andere haben Grund, Kundenbewertungen eher zu fürchten als zu begrüßen, weil "die Kunden ja doch nur bewerten, wenn sie etwas zu meckern haben".
In diese Kerbe schlägt auch eine aktuelle Umfrage des Händlerbunds unter 1.000 Online-Händlern: Demnach finden 95 Prozent der Händler, dass sie von den Kunden unfair bewertet werden - etwa, indem ihnen eine Lieferverzögerung durch die beteiligten Versanddienstleister oder sogar Bestellfehler auf Kundenseite in den Bewertungen zur Last gelegt werden. Auch deshalb fordern E-Commerce-Beobachter wie Jochen G. Fuchs von t3n immer wieder Änderungen im Bewertungssystem. Einfacher soll es werden, kundenfreundlicher und gleichzeitig differenzierter, um Bewertungen zu Produkt, Händler und Versand voneinander zu trennen.
Dem stimmen auch Dienstleister wie Trusted Shops zu. Dessen Bewertungsexperte Simon Ruchartz konstatiert sogar: Eine "Bewertungsflaute" gibt es gar nicht - wenn das Bewertungssystem kundenfreundlich ist. "Es kommt darauf an, einen möglichst unkomplizierten Bewertungsabgabeprozess anzubieten und den Mehrwert der Kundenmeinung darzustellen", so Ruchartz. "Wenn das gelingt, sind die Kunden alles andere als bewertungsmüde. Unsere Daten belegen sowohl einen Anstieg der Bewertungen als auch einen Anstieg der Bewertungen pro User."
Die Anzahl der Bewertungen ist aber nicht nur abhängig von einem kundenfreundlichen Bewertungssystem und mitteilsamen Kunden, sondern auch vom Sortiment des Händlers. Das können vor allem Vollsortimenter wie Otto.de bestätigen. Der Versandhändler erfreut sich einer überdurchschnittlich hohen Bewertungsquote - zumindest in einigen Kategorien.
"Technikartikel werden in der Regel deutlich häufiger und ausführlicher bewertet als Produkte aus dem Fashion-Sortiment", berichtet Olaf Schlüter, Bereichsleiter E-Commerce Produkmanagement & User Experience Design bei Otto. "Multimedia-Artikel lassen sich anhand offensichtlicher technischer Merkmale deutlich einfacher und objektiver rezensieren. Bei Fashion-Produkten beruht die Zufriedenheit des Kunden stärker auf der subjektiven Einschätzung." Auch ein Blick auf die Bewertungen auf Amazon bestätigt diese Einschätzung: Anspruchsvollere oder emotionalere Produkte werden häufiger bewertet und ausführlicher beschrieben als beispielsweise Alltagsgegenstände mit simplen Funktionsweisen wie etwa Leuchtmittel.
Mehr Bewertungen durch mehr Emotionen
Dennoch sind auch für diese einfacheren Produkte Bewertungen entscheidend für die Kaufentscheidung: Zwei Drittel der Otto-Kunden lassen sich laut einer internen Untersuchung des Versandhändlers mithilfe von Bewertungen bei der Produktauswahl beraten; und die Performance der einzelnen Produkte ist stark von den Erfahrungsberichten abhängig. Otto-Mann Schlüter warnt aber vor zu viel Lobhudelei: "Wenn nur positive Bewertungen vorhanden sind, macht das die Rezensionen aus Kundensicht unglaubwürdiger, als wenn ein bestimmter, natürlich nicht zu großer Anteil kritischer Meinungen darunter ist."
Weil Kundenbewertungen weiterhin so essenziell wichtig für die Kaufentscheidung sind, nutzt Otto sie über einen Algorithmus gezielt als Filtermöglichkeit für die Kunden; die können beispielsweise bei einem Fernseher nach Bewertungen zum Thema "Installation" suchen. In Zukunft will der Versender seinen Bewertungsschatz noch mehr nutzen - der ist in Zeiten der "Bewertungsflaute" ja ein Alleinstellungsmerkmal.