
Mathias Gehrckens, Accenture "Corona-Gewinner müssen die gestiegene Nachfrage vernünftiger bedienen"
Mathias Gehrckens, Geschäftsführer Accenture
Mathias Gehrckens, Geschäftsführer Accenture
Das kommende Jahr ist vor allem eins: unplanbar. Doch Händler und Hersteller müssen es irgendwie bewältigen. Was raten Deutschlands Unternehmensberater? Darüber sprachen wir unter anderem mit Mathias Gehrckens, Managing Director Products - Retail bei Accenture.
Wie sieht denn aus Ihrer Sicht die Ausgangslage aus, in der der Handel in das Jahr 2021 startet?
Mathias Gehrckens: Das ist pauschal nicht einfach zu beantworten, weil wir ein Jahr mit sehr unterschiedlichen Verläufen hinter uns haben. Da gibt es Verlierer und Gewinner. Und als ein Gewinner muss man sich natürlich andere Fragen stellen als ein Verlierer. Zu den Corona-Gewinnern zählt der klassische Lebensmitteleinzelhandel - etwa Rewe und Edeka. Die haben 2021 die Aufgabe, sich zu überlegen, wie sie die dank Corona zugewonnene Frequenz behalten. Dafür müssen beispielsweise die Online- und Omnichannel-Angebote deutlich ausgebaut werden. Ähnliches gilt für die Baumärkte. Diese sollten sich Gedanken machen, wie sie ihre Corona-Gewinne investieren, um mehr über ihre Kunden zu erfahren und herauszufinden, mit welchen Projekten sie diese begeistern können. Denn wer sich in diesem Jahr vom gesparten Urlaubsgeld neue Gartenmöbel oder einen neuen Jacuzzi gekauft hat, braucht im nächsten Jahr keine mehr. Hier muss man über ganzheitlichere Angebote im Sinne eines Plattformangebots nachdenken. Die Discounter hingegen haben 2020 an Frequenz verloren, weil die Kunden vermehrt die Supermärkte aufgesucht haben, die ihnen alle notwendigen Produkte an einem Ort bieten und auch bessere Online-Angebote hatten. Die müssen sich - ähnlich wie die Drogeriemärkte - Gedanken machen, wie sie ihre verlorene Frequenz wiederbekommen. Und dann gibt es die richtigen Gewinner - und das ist der Online-Handel. Für diesen Kanal wirkte Corona wie ein Brandbeschleuniger. Die Online-Händler haben im kommenden Jahr die Aufgabe, die unerwartete Nachfrage, die sie in diesem Jahr teilweise zu sehr hohen Kosten bedient haben, vernünftig zu befriedigen. Das heißt, die Prozesse müssen an das gewachsene Volumen angepasst werden. Und auch bei der Lieferqualität und dem gesamten Fulfillment gibt es noch Luft nach oben.
Das größte Sorgenkind ist die Textilbranche, oder?
Gehrckens: Ja leider. Wer im Moment keine Schlafanzüge oder Jogginghosen verkauft, hat für das kommende Jahr zwei Prioritäten: Weiterhin knallhart zu sanieren, um überhaupt wieder Wasser unter den Kiel zu bekommen. Und sich zu überlegen, ob es überhaupt so weitergehen kann wie bisher oder ob Corona nur die eigentlich schon längst fällige Sinnfrage nicht nur beschleunigte.
Jede Planung ist schwierig, wenn so gar nicht absehbar ist, was das kommende Jahr bringt. Es fängt ja schon damit an, dass aktuell noch nicht klar ist, wann und wie wir den Shutdown beenden können. Wie kommt man denn aus dieser Nummer raus?
Gehrckens: Vor Ende des zweiten Quartals wird sich aus meiner Sicht keine Planungssicherheit herstellen lassen. Und eine klassische Planung halte ich in Krisenzeiten und solchen großen Veränderungen auch ohnehin nicht für besonders gut. Stattdessen muss viel stärker in Szenarien und den ihnen innewohnenden Risiken gedacht werden. Hat man sich für ein Szenario entschieden ist es erforderlich, die Szenario-Annahmen regelmäßig zu überprüfen, um zu sehen, wo man sich anpassen oder möglicherweise Gegenmaßnahmen treffen muss. Trotzdem gibt es eine generelle Marschrichtung. Die Krisengewinner müssen ihre Gewinne nehmen, um mehr über ihre Kunden zu erfahren. Meiner Ansicht nach liegen die großen Potenziale des Handels im Digitalisierungsbereich, in der Prozessoptimierung und der kundenindividuelleren Ansprache. Kosten lassen sich im Handel vor allem über datengetriebene Supply-Chain-Optimierung, Store-Prozessoptimierung, Warenverfügbarkeitsoptimierung und Produkt-Lifecycle-Fragen sparen. Dafür braucht man aber Kunden- und Absatzdaten. Das gleiche gilt für die kundenindividuellere Ansprache, also wie steuere ich mein Marketing vernünftig aus, wie entwickle ich meine Sortimente auf Kundensegmente hin, wie kann ich Cross- und Upselling auf Basis von Kundendaten noch optimieren. Da muss das Geld hingehen.
"Sanierung ist wie auf einer Notfallstation im Krankenhaus"
Und wer Ende 2020 vor leeren Kassen sitzt?
Gehrckens: Der muss sich bei seinem Handeln sehr stark fokussieren. Die Frage, was man übermorgen macht, ist hier nicht so relevant. Für diese Händler ist erstmal wichtig, die Kosten nach unten zu fahren, um dann wieder genug Cash in der Kasse zu haben, um daraus etwas Neues zu machen. Die müssen erstmal an heute und morgen denken.
Aber verpassen sie so nicht endgültig den Anschluss?
Gehrckens: Sie können aber kein Geld für übermorgen ausgeben, wenn sie es eigentlich heute brauchen, um zu überleben. Sanierung ist nichts, was Spaß macht. Das ist tatsächlich wie auf einer Notfallstation im Krankenhaus. Wenn ein Patient eingeliefert wird, können Sie noch nicht gleich an die Operation denken, sondern müssen ihn erst einmal soweit stabilisieren, dass er überhaupt in den OP kann. Und genau das ist bei vielen Händlern momentan der Fall. Die Diskussion über übermorgen und dass dann alles wieder besser wird, lenkt nur von den Dingen ab, die man jetzt tun muss.
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