
Gesundheits-Ökonom Gerd Glaeske "Online-Apotheken haben Bewegung in den Markt gebracht"
Gerd Glaeske studierte Pharmazie in Aachen und Hamburg und hält an der Universität Bremen die Professur für die Erforschung der Arzneimittelversorgung.
Gerd Glaeske studierte Pharmazie in Aachen und Hamburg und hält an der Universität Bremen die Professur für die Erforschung der Arzneimittelversorgung.
Das Verbot des Versandhandels rezeptpflichtiger Medikamente ist vorerst vom Tisch. Doch die Online-Konkurrenz tut den Apotheken und den Patienten gut, meint der Bremer Gesundheits-Ökonom Gerd Glaeske.
Zumindest das Versandverbot verschreibungspflichtiger Medikamente ist vorerst vom Tisch: Die Forderung des Apotheker-Verbandes ABDA, die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) unterstützte, ist am Widerstand von SPD und Gründen gescheitert.
Trotzdem werden Online-Handel und E-Commerce noch immer argwöhnisch von Gesundheitspolitikern, aber auch von vielen Apothekern betrachtet. Zu Unrecht, wie Professor Gerd Glaeske meint.
Im Interview erklärt der Gesundheitsökonom aus Bremen, warum Online-Apotheken dem Gesundheitssystem und den Patienten gut tun, wie sich der Medikamenten-Markt verändert und welche Vorteile eine stärkere Digitalisierung der Versorgung Kranker brächte.
Im vergangenen Oktober hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Versandapotheken im Ausland von der Apothekenpreisverordnung für verschreibungspflichtige Medikamente freigestellt. DocMorris, die Europa Apotheek und andere Versender in den Niederlanden können diese jetzt mit Rabatten und billiger verkaufen. Welche Folgen hatte das Urteil für Apotheken in Deutschland?
Professor Gerd Glaeske: Die hiesigen stationären Apotheken haben erheblichen Lobbydruck entwickelt, um nach dem Urteil zumindest den Versand rezeptpflichtiger Arzneien zu unterbinden. Das ist ihnen jedoch nicht gelungen. Trotz des großen Aufschreis in den Medien hatte das Urteil bisher keine erkennbaren wirtschaftlichen Folgen. Obwohl Versender im Ausland rezeptpflichtige Medikamente mit Rabatten verkaufen können, habe ich nichts von Umsatzeinbrüchen in deutschen Apotheken gehört.
Wurden rezeptpflichtige Arzneien billiger?
Glaeske: Nein, aber unabhängig von den Diskussionen um das EuGH-Urteil sind die Preise für Medikamente in Deutschland enorm gesunken, seit der Verband der Kassen diese mit den Herstellern aushandeln und einzelne Kassen außerdem Rabattverträge mit Pharmaherstellern abschließen können.
Wie geht es den Apotheken, im Hinblick auf die noch junge Online-Konkurrenz?
Glaeske: Die Online-Apotheken sind seit geraumer Zeit ein Thema in der Branche. Seit 2004 ist der Versand in Deutschland erlaubt, etwa 15 Prozent der rund 20.000 Apotheken in Deutschland setzen auf diesen Vertriebskanal. Darunter sind Spezialangebote wie Kosmetik und Gesundheitsprodukte aus den frei verkäuflichen Sortimenten der Apotheken, andererseits haben sich mittlerweile auch größere Versandapotheken entwickelt, die Medikamente zur Selbstmedikation mit hohen Rabatten verkaufen. Eine Packung Paracetamol mit 20 Tabletten, die sonst zwei Euro kostet, ist hier oft schon für einen Euro zu haben.
Tut die Online-Konkurrenz dem Markt gut?
Glaeske: die dringend erforderlich war. Als Gesundheitsökonom und als wettbewerbsorientierter Wissenschaftler halte ich diese Entwicklung für sehr vernünftig, gerade in einem Gesundheitssystem, das über Jahrzehnte erstarrt war. Hier gibt es ja nur wenige Chancen eines ausdifferenzierten Wettbewerbs. Leider wird die Konkurrenz zwischen online und stationär bisher nur über den Preis ausgefochten, nicht aber über die heilkundliche Kompetenz. Offensichtlich ist die Preiskonkurrenz gegenüber Kassen, Kunden, Patienten und anderen Institutionen am besten vermittelbar.

Im Schnitt versorgen in Europa 35 Apotheken je 100.000 Bewohner. Deutschland liegt mit einem Verhältnis von 25:100.000 unter dem Durchschnitt. Hier können Präsenzapotheken außerdem Abteilungen für den Versand gründen - in sechs europäischen Ländern ist das verboten.
DAZ, ABDA
Die Zahl der Apotheken nimmt ab, ist die Flächenversorgung in Gefahr?
Glaeske: Die Zahl der Apotheken geht seit einiger Zeit um 100 bis 120 pro Jahr zurück, ein Ergebnis aus Neugründungen und Schließungen und eine Fluktuation, die in vielen Bereichen im Gesundheitssystem zu beobachten ist. Durch die Reformen agieren Apotheken heute anders. Sie kooperieren miteinander, um wie große Versender Einkaufsvorteile bei den Herstellern auszuhandeln, sie haben bis zu drei Filialen, setzen auf Online-Angebote und Versand. Das vermeintliche Apothekensterben würde ich als normale Marktbewegung oder als Konsolidierung bezeichnen. Es gibt heute weniger Apotheken, weil sich Apotheken mit einem Jahresumsatz von unter einer Million Euro oft nicht mehr rentieren und daher schwer zu verkaufen sind. Der Trend geht heute zu größeren Apotheken in gut frequentierten, meist städtischen Einkaufslagen.
Herrscht also Überversorgung?
Glaeske: Schwer zu sagen, aus meiner Sicht sind es zu viele Apotheken. Die Apotheker argumentieren mit der Situation in Europa. Deutschland liegt mit 25 Apotheken pro 100.000 Einwohnern unter dem europäischen Schnitt von 35. Allerdings: Als es noch keine Niederlassungsfreiheit für Apotheker gab, versorgte eine Apotheke 9800 Menschen, heute ist dieses Verhältnis je nach Region auf 1 zu 3.500 gesunken. Selbst Funktionäre geben zu, es könnte gut und gerne bei 1 zu 5000 liegen. In diesem Fall bräuchten wir 16.000 Apotheken. Wichtiger als ihre Zahl ist aber die Verteilung, die Ballung von vier, fünf Apotheken in Stadtzentren ist ungesund und fördert letztlich nur den Verkauf von Mitteln aus dem Randsortiment wie Kosmetika oder andere zum Teil dubiose Angebote. Wir brauchen eine andere Verteilung der Apotheken, die durch Anreize gesteuert werden sollte. Dann funktioniert auch die Versorgung auf dem Land, die angeblich durch Versandapotheken gefährdet sein soll. Belege für diese These bleiben die Apotheker allerdings schuldig.
" Fraglich ist, ob alle Kunden bei Medikamenten nur auf den Preis achten"

Von gut 20.000 Apotheken haben laut Branchenverband BVDVA 3000 eine Erlaubnis für Versand und E-Commerce beantragt, etwa 150 von ihnen setzen in diesem Vertriebskanal mehr als eine Million Euro im Jahr um. Insgesamt werden in Deutschland pro Jahr rund 50 Milliarden Euro durch den Verkauf von Medikamenten umgesetzt, davon entfallen 85 Prozent auf verschreibungspflichtige Arzneien, deren Preise reguliert werden, 15 Prozent indes auf apothekenpflichtige und frei verkäufliche Medikamente, deren Preise frei gestaltet werden dürfen und die sich zu Bestsellern in den Online-Apotheken entwickelten.
Fotolia/Denis Magilow
Trotzdem wird immer wieder ein Verbot des Online-Handels und Versands gefordert. Was soll das bringen?
Glaeske: Nicht der Online-Handel generell soll verboten werden, sondern nur der Versand rezeptpflichtiger Medikamente. Apotheken im Ausland unterliegen hier nicht mehr der Preisbindung in Deutschland. Folglich befürchten Apotheker, dass sich der Versand auf preisgünstigere Medikamente aus dem Ausland konzentriert. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn 85 Prozent des Geschäfts einer Apotheke entfallen auf den Verkauf rezeptpflichtiger Medikamente, die nach wie vor der Preisbindung unterliegen. Nach dem EuGH-Urteil gewähren Apotheken im Ausland jetzt Rabatte, hiesige Apotheker würden sich damit aber strafbar machen. Daher sehen Apotheker die Preisbindung als Schutz ihrer Geschäfte und treten für ein Versandverbot ein. Sollte aber die Preisbindung weiter bestehen, könnten die Kassen ihren Versicherten raten, gerade teure Medikamente im Ausland zu bestellen. Unter der Hand fordern inzwischen erste Apotheker, die Aufgabe der Preisbindung auch in Deutschland, um so Wettbewerbsnachteile auszugleichen. Fällt die Preisbindung, wird ein Großteil der Apotheken doppelt ins Feuer geschickt: Sie müssten mit den Versendern im Ausland konkurrieren, die ihnen an Erfahrung mit der Preisgestaltung und dem Versand voraus sind, sich aber auch gegenüber den größeren Konkurrenten im Land behaupten, die Größenvorteile beim Einkauf nutzen können. Daher organisieren sich immer mehr Apotheken in Verbünden, um Einkaufsmacht zu bündeln und für den Fall der Freigabe von Preisen vorzusorgen.
Bei den nicht rezeptpflichtigen Medikamenten ist dieser Zustand schon erreicht: Setzen sich hier die Präsenzapotheken gegenüber Online-Apotheken durch?
Glaeske: Auf die apothekenpflichtigen und frei verkäuflichen Medikamente entfallen lediglich 15 Prozent des Geschäfts, zurzeit sind das rund 5,5 Milliarden Euro. Apotheken gewinnen in diesem Bereich durch Preissenkungen sicher Kunden, dieses Segment hat sich aber zur Domäne der Online-Apotheken entwickelt. Hier erreicht der E-Commerce einen Anteil von 14 bis15 Prozent. Aber Kunden unterscheiden sich in ihrem Verhalten, fraglich ist, ob alle bei Medikamenten nur auf den Preis achten. Vielen von ihnen dürfte die Apotheke vor Ort mehr wert sein, vielleicht weil sie schnell erreichbar ist, weil der persönliche Kontakt zählt oder die Beratung besser ist.
"Konflikte zwischen Verkaufsanforderungen und Beratung"
Versand- oder Präsenzapotheke werden auch anhand der Beratung verglichen: Wer ist besser?
Glaeske: Mit der Stiftung Warentest haben wir das untersucht. Es gibt gute und schlechte Beratung in den Online-Apotheken, aber auch in den Präsenzapotheken. Aus technischen Gründen können Versender nicht persönlich beraten, einige von ihnen gleichen diesen Mangel durch die Beratung am Telefon oder mit Videotelefonie aus. Vielen Kunden reicht das. Unabhängig ob stationär oder online – ein Drittel der Apotheken beraten gut bis sehr gut, ein weiteres Drittel eher mäßig, das letzte Drittel sehr schlecht. Die Beratungsqualität hängt auf keinen Fall mit der Distribution zusammen, und letztlich entscheidet der Kunde, welche Beratung er braucht und will.
Sie empfehlen für die Kundenbindung mehr Service und Beratung, ist das die Zukunft?
Glaeske: Es gibt viele Empfehlungen zur Apotheke der Zukunft, Fakt ist, die Strukturen des Marktes passen nicht so recht zu diesen Forderungen. Um Kunden mit Beratung binden zu können, müssten Apotheken von dem wirtschaftlichen Zwang der Gewinnerzielung gelöst und Beratungstätigkeiten gesondert honoriert werden. Viele junge Apotheker verlassen die Branche wieder, weil sie ständig in Konflikt kommen zwischen Verkaufsanforderungen und Beratung. Für mehr Effizienz im Gesundheitssystem und zur Vermeidung von Nebenwirkungen wäre es wünschenswert, wenn Apotheker Patienten beraten und wie in Krankenhäusern Hand in Hand mit den niedergelassenen Ärzten vor Ort arbeiten. Doch die meisten Apotheken sind für Fragen der Ärzte nicht unbedingt erreichbar, oft fehlt ihnen auch das Wissen und die Zeit zu antworten, weil Verkaufszahlen und die wirtschaftliche Existenz der Apotheke wichtiger zu sein scheinen.
Wie wird sich der Markt entwickeln, werden E-Commerce und Digitalisierung zunehmen?
Glaeske: Digitalisierung ist die wesentliche Basis für mehr Transparenz, Therapiesicherheit und Effizienz im Gesundheitssystem. Mit der digitalen Patientenakte könnten Apotheker die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medikamenten besser abschätzen. Seit Ende 2016 bekommen Patienten, die für längere Zeit mehr als drei Medikamente einnehmen, einen Medikationsplan – auf Papier: Das ist absolut ineffizient, anachronistisch und funktioniert daher auch nicht besonders. Digitalisierung und Vernetzung fördern die Versorgungs- und Patientensicherheit sowie die Transparenz für eine punktgenaue Beratung. Doch bislang werden alle Anstrengungen gebremst. Meine Vermutung ist, dass Politik, Ärzte und Apotheker fürchten, dass sich die entstehende Transparenz gegen die Entscheider im Gesundheitssystem richtet und Entscheidungen überprüfbar werden. Unter-, Über- und Fehlversorgung würden dann noch mehr sichtbar als schon heute.
Gilt das auch für den Markt und den Vertrieb?
Glaeske: Hier besteht längst volle Transparenz. Hersteller wissen durch Ihre Erhebungssysteme, welche Ärzte in welcher Häufigkeit Wirkstoffe verordnen und welche Medikamente sich am besten verkaufen. Was sie nicht, noch nicht wissen, ist, wie das beim Patienten zusammenläuft. Auch in der Apotheke herrscht Transparenz, Warenwirtschaftssystem und Scannerkassen bieten gute Informationen über Absatz und Umsatz, Apotheken kennen ihre Bestseller, sie sehen mit wenigen Clicks den Warenbestand und können auf Informationen über alle möglichen Wirkstoffe zugreifen. Allerdings gibt es einen Bruch: auf Ebene der Patienten ist die Transparenz bisher nicht geschaffen worden, allenfalls in Krankenhäusern mit elektronischen Patientenakten. Das aber schadet letztlich den Kranken, weil Behandlungen nicht allen beteiligten Ärzten und Institutionen bekannt sind und so nicht aufeinander abgestimmt werden können. Das gilt insbesondere für den Arzneimittelbereich, aber auch für Diagnostik und Therapie.