
Auch zehn Jahre nach Launch des iPhones sind Diskussionen über die Unterschiede von Online und Mobile im Marketing noch immer geprägt von technischen Details. Der Nutzungskontext wird dabei häufig ignoriert.
Wer seine eigene Mediennutzung analysiert, wird an einer offensichtlichen Beobachtung nicht vorbeikommen: Während der Computer - ob Desktop oder Laptop - in wenigen, meist intensiven Sitzungen genutzt wird, begleitet uns das Smartphone über den gesamten Tag hinweg und wird sehr häufig und in den meisten Fällen auch sehr gezielt eingesetzt.
In Zahlen bedeutet das laut aktuellem Whitepaper von Google: Wir greifen im Durchschnitt 150-mal am Tag zu unserem mobilen Wegbegleiter. Dabei ist mehr als die Hälfte der Nutzungen laut qualitativen Studien unter 30 Sekunden lang. Diese Zahlen unterscheiden sich je nach Studie in Abhängigkeit der untersuchten Zielgruppe und eingesetzten Forschungsmethode. Studienübergreifend lässt sich hier aber ein eindeutiger Trend bei der mobilen Mediennutzung feststellen.
Nutzungskontext
Der entscheidende Unterschied zur Online-Nutzung liegt hier jedoch nicht in der quantitativ messbaren Nutzungsfrequenz und Intensität, sondern vielmehr in dem qualitativ feststellbaren Nutzungskontext.
Während die Online-Nutzung meist stationär stattfindet (man könnte Online auch wörtlich mit "An der Leine" übersetzen), begleitet uns das Smartphone und ist in jeder Lebenssituation griffbereit.
Für eine Bewertung des Kontextes kann jede Nutzungssituation über vier Parameter beschrieben werden:
- Motivation: Welches Ziel verfolgt der Nutzer mit der aktuellen Nutzung?
- Dringlichkeit: Wieviel Zeit steht ihm zur Zielerreichung zur Verfügung?
- Aufenthaltsort: In welchem lokalen Kontext befindet er sich?
- Gemütszustand: In welcher emotionalen Verfassung befindet sich der Nutzer?
Wer diese vier Parameter auf seine eigene Mediennutzung anwendet, wird schnell feststellen, wie unterschiedlich die Erwartungshaltung des Nutzers an das jeweilige mobile Erlebnis ist. Ein gestresster Geschäftsreisender, der am Bahnhof seinen Zug erwischen möchte und über das Smartphone nach dem Gleis sucht, wird möglichst schnell und unkompliziert ein Ergebnis erzielen wollen. Sitzt dieselbe Person jedoch am Sonntagabend auf dem Sofa und vertreibt sich die Zeit mit dem Smartphone, ist sie höchstwahrscheinlich offen für Inspirationen und Ablenkung.
Das Interessante an dem hier aufgeführten Beispiel ist, dass Person und Endgerät in beiden Situationen identisch ist, sich jedoch die vier Parameter Motivation, Dringlichkeit, Aufenthaltsort und Gemütszustand massiv voneinander unterscheiden. Eine Differenzierung, die in dieser Tiefe in der klassischen Marketingplanung bisher nicht vorgenommen wurde, aus meiner Sicht aber absolut notwendig ist um der neuen "Realität" gerecht zu werden.
Mobile Moment
Diese Form der Mediennutzung wird laut Forrester Research als "Mobile Moment" bezeichnet: "a mobile moment is a point in time and space when someone pulls out a mobile device to get what they want in their immediate context". Laut Forrester haben Konsumenten heute die Erwartung, dass alle Informationen und Dienstleistungen auf jedem Endgerät, in jedem Kontext und im Moment des Bedarfs zur Verfügung stehen.
Auch Google arbeitet mit diesem Begriff, spricht alternativ auch Device-unabhängig von "Micro-Moments". In dem Whitepaper "Micro-Moments: Your Guide to Winning the Shift to Mobile" gibt Google Marketing-Verantwortlichen Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Mobile Moments: Im entscheidenden Moment da sein ("Be There"), einen Mehrwert liefern ("Be Useful") und Informationen und Dienstleistungen möglichst einfach und schnell zugänglich machen ("Be Quick").
Google und YouTube
Mit dem für dieses Jahr angekündigten Update des Google-Such-Algorithmus, bei dem mobile Websites mit intrusiver Interstitial-Werbung im Ranking abgestraft werden, hat Google genau diese Ziele im Sinn. Laut Unternehmensblog soll die Maßnahme Nutzern dabei helfen, einfach und barrierefrei auf den Content zuzugreifen, den sie suchen.
Eine ähnliche Idee steckt hinter den TrueView-Videoanzeigen von YouTube: Nutzer können Werbeanzeigen je nach Interesse und Nutzungskontext nach fünf Sekunden überspringen. Wer schon mal die Website eines Medienhauses besucht hat und vor dem eigentlichen Video einen dreißig-sekündigen Fernsehwerbeclip sehen musste, weiß, wie anstrengend dies in manchen Momenten auf dem Smartphone sein kann.
Hier kann als Positivbeispiel die neue App der Tagesschau genommen werden: Inhalte werden in Form von kurzen, hochformatigen Videos angezeigt, die man bei Interesse vertiefen oder im Tinder-Style weiter wischen kann. Dazu werden Videos in Abhängigkeit des Wohnortes, Interesses und Nutzerverhaltens dargestellt und bei hoher Dringlichkeit sogar per Push-Benachrichtigung verschickt.
Moment Marketing
Ein Marketing, bei dem nicht nur der Nutzer, sondern vor allem sein aktueller Kontext berücksichtigt wird, kann laut Deloitte und WARC als "Moment Marketing" bezeichnet werden.
Für die Mobile Werbung werden hier aus meiner Sicht vor allem drei Komponenten benötigt:
- Programmatische Plattformen, die eine Kommunikation in Echtzeit ermöglichen
- Daten, die den anonymen Nutzer und seinen aktuellen Kontext beschreiben und
- Dynamische Werbemittel, die das Creative an den jeweiligen Nutzer und seinen Kontext anpassen können.
So einleuchtend diese Herangehensweise klingt, so weit ist sie bei vielen Kampagnen jedoch noch von der Realität entfernt. Noch immer dominieren statische Excel-Tabellen die Mediaplanung und Kampagnen werden für Kanäle und nicht für Nutzer und ihre "Moments" optimiert.
Klassische Targeting-Parameter waren auch 2016 vor allem Alter, Geschlecht und Einkommen - nicht Interesse, Kontext und Gemütszustand. Eine Herausforderung, der sich 2017 sowohl Werbungtreibende und Agenturen als auch Anbieter stellen müssen.
Übrigens: Einhergehend mit der Veränderung der Mediennutzung hat sich auch unsere Aufmerksamkeitsspanne dem digitalen Wandel angepasst. Laut einer Studie von Microsoft ist diese in den vergangenen 15 Jahren von zwölf auf acht Sekunden gefallen. Zum Vergleich: Einem Goldfisch wird eine Aufmerksamkeitsspanne von etwa neun Sekunden bescheinigt. Noch ein Grund mehr für Unternehmen das Konzept der "Mobile Moments" in ihre Marketingstrategie zu übernehmen.