Wie rappte Bushido vor einigen Jahren? "Zeiten ändern sich, Zeiten ändern Dich und Deine Sicht!" Ist eine Ewigkeit her - ob er damit unbewusst einen Blick in die Zukunft des Fernsehens geworfen hat?
Fakt ist: Die Art und Weise, Bewegtbild zu rezipieren, hat sich spätestens seit dem Buzzword "Social Video" schlagartig geändert. Warum? Weil wir ohnehin ständig online sind und Bewegtbild quasi immer und überall konsumieren können - ob im Bett, in der Bahn, im Fußballstadion, die Bedeutung von Livestreaming wächst rasant. Warum noch auf die Anzeigetafel starren, wenn man sich die Zwischenergebnisse in anderen Stadien live auf dem Smartphone anschauen kann? Warum auf Nachrichten im TV warten, wenn im Social Web Videos so viel aktueller gestreut und konsumiert werden können? Und: Warum überhaupt noch Fernsehen?
Die für Brands wichtigen Zielgruppen von morgen verbringen heute schon wesentlich mehr Zeit mit dem Angucken von Bewegtbild auf ihren mobilen Geräten als auf dem TV. Sie haben den Second Screen längst hinter sich gelassen. Das ist Fakt. Auch außerhalb der Generationen Y und Z nutzen vermehrt Menschen mit steigender Tendenz beim Fernsehkonsum Tablet und Smartphone. Und Livestreaming bietet die Möglichkeit, die schwer zu erreichende TV-Zielgruppe mit spannenden, relevanten Live-Inhalten zu ködern. Erst recht, wenn der Zuschauer, wie bei vielen TV-Diensten, sein Programm selbst gestalten kann.
Ist es also Zeit, das gute alte Fernsehen langsam zu Grabe zu tragen? Zumindest muss es sich an die rasante Entwicklung anpassen. Denn nach dem Angriff auf die Werbebudgets des klassischen Fernsehens erfolgt nun der direkte Vorstoß auf das Kerngeschäft - das Programm.
Die Experten sind sich einig: Die Zukunft gehört dem Livestreaming, weil die verlockende Kombination von Werbemöglichkeiten mit Nutzerdaten in Echtzeit einen wahren Milliardenmarkt erwarten lässt. Kein Wunder, dass sich jeder Social-Video-Gigant die Hände reibt und gleichzeitig versucht, der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein, Nutzungszeiten zu erhöhen und den Live-Charakter zu stärken. Von nahezu jeder Plattform lässt sich heute Video-Content ins Web stellen. Die Interaktion der User auf den Kanälen wurde schon längst in den Livestream integriert - ob auf Snapchat, Instagram, Periscope oder Twitter.
Qualität kostet - auch Facebook
Allen voran hat Facebook mit "Facebook Live" die Branche so richtig aufgemischt und seinen Umsatz dank Social Video und den damit verbundenen Reichweiten und Marketingmöglichkeiten gehörig gesteigert. Mit 1,5 Milliarden US-Dollar im ersten Quartal 2016 hat der Social-Media-Platzhirsch so viel umgesetzt, wie noch nie in der Firmengeschichte.
Dieser Erfolg ist eng daran gekoppelt, bewegten und bewegenden Content per Smartphone problemlos hochzuladen und zu konsumieren. Facebook bietet zudem immer neue Formate und Möglichkeiten, Livestreaming aktiv und passiv zu nutzen. So gibt es zum Beispiel eine sogenannte Live-Map, die eine Übersicht aller aktuellen Streamings rund um den Globus anzeigt. Damit wäre dann auch die gute alte TV-Zeitschrift abgelöst - zumindest in Sachen Social Video.
Mit dem Erfolg steigt für Facebook aber zunehmend auch der Druck. Zwar ist Mark Zuckerberg von der Wachablösung des klassischen Fernsehens und der Power von Social Video absolut überzeugt, wenn er sagt: "Go Live on Facebook and broadcast to the largest audience in the world with the camera in your pocket!" Aber auch er weiß, dass er immer neue Wege finden muss, hochwertigen, vermarktbaren Live-Content zu streamen - nicht umsonst hat Facebook Verträge über 50 Millionen US-Dollar mit mehr als 140 Medienunternehmen wie CNN, New York Times und Vox Media sowie mit vielen Celebrities abgeschlossen, um die User oder besser "Zuschauer" mit innovativen Ideen bei der Laune zu halten.
Der schmale Grat zwischen Einfluss und Beeinflussung
In einem Punkt behält Zuckerberg mit seiner Aussage aber Recht: Der einzelne User kann sich heute nicht nur sein eigenes Programm zusammenzustellen, sondern selbst zur Sendestation werden und im Handumdrehen auf die Bildschirme von potenziell Millionen Mobile Devices gelangen. Livestreams holen das Weltgeschehen direkt in unser Leben. Wo man früher Fotos geliked hat, kann man jetzt live dabei sein. Jeder kann sich so seine eigene Meinung bilden, kann im Gegenzug aber auch leicht beeinflussen und beeinflusst werden. Das bietet dem kleinen Mann im Social Web riesige, nicht zu unterschätzende Möglichkeiten - in jeder Hinsicht.
Apropos riesig: Es muss in Sachen gekonntes Livestreaming nicht immer nur Facebook sein. Kleinere Social-Media-Kanäle können sich ebenfalls ihr Stück vom Live-Streaming-Kuchen holen, wenn sie mit Kreativität, Flexibilität und der richtigen Idee zur richtigen Zeit punkten. Da ist etwa die Live-Streaming App Periscope, die gerne für eventlastigere Anlässe wie Produktpräsentationen, Musikshows und Live-Konzerte genutzt wird.
Oder die Spaß-App "musical.ly", die gerade Kids rund um den Globus dazu bringt, "musicals", also lustige Playback-Videos zu Songs oder Filmzitaten zu posten. Musical.ly hat kürzlich die Streamingapp "live.ly" gelauncht. Warum? Richtig, es ist eine Livestreaming-App. Und die schoss prompt an die Spitze des iOS App Stores - noch vor den Facebook Messenger, Instagram und Snapchat.
Obwohl Twitter derzeit mit einigen Problemen zu kämpfen hat - sogar eine Übernahme stand im Raum -, vereint der Kurznachrichtendienst Social-Video-Kanäle wie Vine und Periscope unter einem Dach und besetzt damit vor allem in den USA vielversprechende Kategorien wie Wirtschafts- und Finanzmeldungen sowie Sportberichterstattung.
Snapchat hingegen stellt das Leben der User im Hier und Jetzt in den Mittelpunkt - unbearbeitet und ungeschminkt, als Foto und natürlich auch als Video. Damit war der Kanal einer der Vorreiter, und der Erfolg gibt Snapchat Recht.
Der Vorteil von Snapchat: Übermittelte Inhalte werden nach 24 Stunden wieder gelöscht. Dem gegenüber steht der Fakt, dass es dadurch für Unternehmen nicht gerade leicht ist mit der App umzugehen. Schließlich muss entsprechender Content durch die zeitliche Einschränkung sehr flexibel und ohne große Vorbereitung generiert werden. Live ist eben live - und verzeiht selten Fehler. Hinzu kommt: Content ist immer noch King! So spannend explodierende Wassermelonen auch sein mögen, auf lange Sicht sollten Unternehmen doch auf relevantere Inhalte setzen, um ihre Zielgruppen via Livestreaming auch langfristig zu fesseln.
Unternehmen werden Medienhäuser
Immerhin können Brands entscheiden, ob sie selbst Content kreieren, eine Agentur beauftragen oder doch lieber einen Influencer engagieren, um noch glaubwürdiger bei den Zielgruppen zu landen. Natürlich gibt es auch die Option, über sogenannte In-Stream-Ads selbst Anzeigen zu schalten. Es wäre schließlich viel zu schade, wenn Streams und Inhalte ungebrandet durchs Web gejagt werden.
All das zeigt, dass die ganze Branche sich auch stetig neu befruchtet. Die vielen Möglichkeiten, die Livestreaming bietet, führen nicht nur zu einer Veränderung des TV- und Werbemarkts. Sie machen vielmehr Unternehmen selbst zu Medienhäusern. Nehmen wir beispielsweise den FC Bayern München. Der Verein hat jetzt neben Snapchat auch Facebook Live für sich entdeckt, um den Fans immer schneller und möglichst direkt frischen Content zu liefern.
Ein modernes Unternehmen muss bereit sein, alle angesagten Social-Media-Kanäle zu bespielen, speziell bei einer sehr heterogenen Zielgruppe. Dass das aber nicht jedes Unternehmen kann, ist auch klar - dafür gibt es ja Agenturen, die teilweise ganze Studios für ihre Kunden gebaut haben. So kann jeder von der aktuellen Entwicklung profitieren, denn Werbebudget ist genug vorhanden.
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angekommen wären: Schnappt Social Video dem TV nun auch die Werbekunden weg und lässt das Fernsehen so langsam vor die Hunde gehen? Nicht, wenn man kreative Köpfe in den Sendestationen und Redaktionen sitzen hat, die mitdenken, das Potenzial von Social Video erkennen und Konzepte entwerfen, um Livestreaming mit dem klassischen Fernsehen zu verbinden.
Jan Böhmermann ist so einer. Und Tom Burow. Vielleicht erleben wir bald Nachrichtensendungen, die 24 Stunden lang live via Stream senden. Vielleicht werden ganze TV-Formate in den Social-Video-Bereich übertragen - das ist den Sendern mit den Online-Mediatheken immerhin ganz gut gelungen. Und vielleicht lässt sich die ganze Entwicklung ja so zusammenfassen: Heute leben wir in einer Übergangsphase, in der beide Formate immer mehr miteinander verschmelzen. Livestreaming und Social Video sind definitiv das TV von morgen, und das gute alte Fernsehen ist vielleicht doch nicht ganz so von gestern. Bushido aber auf jeden Fall. Definitiv.