
Ingo Notthoff, Leiter Marketing bei T-Systems Multimedia Solutions
Ingo Notthoff, Leiter Marketing bei T-Systems Multimedia Solutions
KI folgt einer ganz klaren Logik: den vorliegenden Fakten. Menschen ziehen aber noch eine weitere Entscheidungsebene hinzu: das Bauchgefühl. Wieviel Bauchgefühl braucht aber die KI von morgen?
Seit bald zwei Jahren trage ich mein Fitnessarmband am Handgelenk. Aktuell jedoch eher mit schlechtem Gewissen, weiß ich doch, dass die Sporteinheiten in letzter Zeit zu kurz kamen. Und spannt mein Hemd eigentlich etwas am Bauch? Es ist Mittagspause und ich bin auf dem Weg in die Kantine. Im Fahrstuhl sinniere ich über mein Sportdefizit und ich denke darüber nach, was ich die letzten Tage gegessen habe. Spontane Schlussfolgerung: Mehr Bewegung und gesündere Ernährung müssen her. In der Kantine angekommen, fällt mein Blick auf das Menü. "Hm, lecker. Burger", denke ich noch, da meldet sich das schlechte Gewissen am Handgelenk. Ich steuere also lieber auf die Salatbar zu und studiere lustlos die Auswahl. Mein Magen knurrt. Ich denke über die Meetings am Nachmittag nach und stelle mir vor, wie ich diese mit einem Salat im Bauch überstehen soll. Ob die Kollegen wohl Kekse in den Konferenzraum stellen werden, über die ich mich nachmittags hermachen kann? Und während ich noch an Gebäck denke, machen meine Füße sich schon selbstständig. Mein Bauch hat eine Entscheidung getroffen. Das Vorhaben "Mehr Bewegung und gesünderes Essen" startet nächste Woche. Jetzt esse ich einen Burger. Aber ohne fettigen Bacon.
Menschen hören auf ihr Bauchgefühl
Fakten sprechen eine klare Sprache, aber dennoch hören wir Menschen auf unser Bauchgefühl. Gehören für uns Emotionen doch dazu, Dinge zu entscheiden. Und auch wenn von den Fakten her alles für eine bestimmte Entscheidung spricht, sagt mein Bauch manchmal: Nein! Ich werde jetzt anders entscheiden, gegen die Faktenlage. Das Bauchgefühl entsteht, weil wir Dinge abwägen, gedanklich neu ansetzen sowie uns von Gefühlen leiten und uns ablenken lassen. Ja, sogar die Tatsache, dass wir Denkfehler machen oder eigentlich unwichtige Aspekte berücksichtigen, führt letztlich zur Entscheidung aus dem Bauch heraus.
Die KI auf der anderen Seite, ist eine Welt purer Rationalität. Fehler in der Prozessabfolge sind die absolute Ausnahme und es ist eine Abbildung verschiedener "Wenn-Dann-Ketten", die zu einem rationalen, objektiven Ergebnis führen. Subjektivität und den Blick über den Tellerrand können wir künstlichen Intelligenzen (noch) nicht einpflanzen. Und so werden künstliche Intelligenzen uns auch weiterhin erstmal mit ungewünschten Ergebnissen "erfreuen", zu deren Herleitung zwar kein Fehler begangen worden ist, jedoch auch keine subjektive Abwägung beigetragen hat.
So hat der Alexa-Sprachassistent, der in Pinneberg Anfang November einen nächtlichen Polizeieinsatz auslöste, faktisch vielleicht alles richtig gemacht. Denn wer weiß schon, ob nicht jemand Alexa durch ein gekipptes Fenster einen Befehl zugerufen hat. Das Bauchgefühl hätte jedoch in jedem Fall widersprochen, die Musik um 3 Uhr nachts auf ohrenbetäubendem Pegel einzuschalten, während der Besitzer des Geräts auf der Hamburger Reeperbahn unterwegs war.
Bauchweg-Programm?
Uns stehen heute so viele Daten, Fakten und Informationen zur Verfügung wie nie zuvor. Aber überlagern die Unmengen an objektiven Fakten dadurch unser subjektives Bauchgefühl? Im Kleinen vielleicht. Bekommt ein Film auf verschiedenen Plattformen schlechte Kritiken, entscheide ich mich für einen anderen Blockbuster. Hat mein Lieblingsitaliener in den letzten Monaten ein paar schlechte Bewertungen bekommen, bestelle ich die Pizza vielleicht woanders. Andererseits: Vielleicht möchte ich dem Film dennoch eine Chance geben, weil mir der ebenfalls schlecht besprochene, erste Teil so gut gefallen hat? Und ich bleibe meinem Stammitaliener treu, weil ich weiß, dass er im letzten Monat mit vielen krankheitsbedingten Ausfällen zu kämpfen hatte?
Was ich damit sagen möchte: Der Mensch hat ein Grundbedürfnis, Entscheidungen auch weiterhin selbst zu treffen. Klar, wo es hilft, da kann ein faktengetriebener Algorithmus gerne Entscheidungen abnehmen, etwa bei der Navigation mit dem Auto. Aber als Konsument will ich doch in meiner Entscheidung frei bleiben, links abzubiegen und einen Schleichweg zu nehmen, obwohl die Navigations-App mich geradeaus schicken möchte.
Und eine Welt der digitalen Fakten befreit uns nicht davon, auf unser Bauchgefühl zu hören. Es ändert sich aber sicher die Ausgangslage, denn nun haben wir mehr Fakten, die wir zur Abwägung unserer Entscheidung hinzuziehen können. Wir sind von vornherein besser informiert. So warnt mein Navi mich, dass auf meiner Strecke ein langer Stau herrscht und schlägt mir eine Alternativroute vor. Früher wäre ich einfach losgefahren und im Stau gelandet. Heute schaue ich mir den Vorschlag an und treffe auf Basis dessen meine Entscheidung. Mein Bauch wiederum sagt mir dann auch gerne mal "Ach, ich probiere es, bis ich am angegebenen Stau bin, hat der sich längst aufgelöst." Nun, manchmal hat mein Bauch Recht. Manchmal leider nicht. Aber mit der Unsicherheit kann ich leben.
Bauchfreie KI?!
Was für ein Bauchgefühl hat aber die KI, beziehungsweise ihr Algorithmus? Führt Google Home Dinge aus, ohne sie zu hinterfragen? Die Fakten lehren den Sprachassistenten bei Bestellungen, dass Familie Notthoff beispielsweise fünf Liter Milch in der Woche konsumiert. Es ist ein Fakt, dass H-Milch 40 Tage haltbar und gerade beim Discounter im Angebot ist. Google Home schlussfolgert auf Basis der Fakten, es sei klug direkt mal für den nächsten Monat Milch zu bestellen. Dabei lässt es allerdings einen Fakt außer Acht, nämlich dass in der Speisekammer keine Lagermöglichkeiten für so viel Milch bestehen. Ein Fehler? Oder eher mangelnde Relevanz eines Fakts für die entstandene Entscheidung?
Mein persönliches Bauchgefühl hätte zumindest direkt "Stopp" gerufen, noch während ich über die Großbestellung nachgedacht hätte. Google Home kommt in diesem Beispiel, in dem der Algorithmus eine Reihenfolge von Eventualitäten abarbeitet und so zu einem Ergebnis kommt, nicht zu diesem Schluss. Bei uns Menschen hingegen ist der Weg, etwas zu überdenken und zu einer Schlussfolgerung zu kommen, bereits das Ergebnis.
Ein Bauchgefühl haben, heißt verstehen
Sprechen wir in unserer Branche über Automatismen und KI, dann fällt schnell auch der Begriff "Deep Learning". Eine wichtige Technologie, die die Entscheidungen der Programme noch vielschichtiger und ausgewogener machen, denn es werden dadurch doch mehr Entscheidungs- und Faktenebenen hinzugezogen.
Die "emotionalen" Grenzen der aktuellen Technologien, und damit das Fehlen von Bauchgefühl, kann jedoch auch Deep Learning nicht aufbrechen. Um das zu erreichen muss Deep Learning einem Deep Unterstanding weichen, also dem Verstehen, welche Tragweiten gewisse Entscheidungen nach links und rechts haben. Das ist aktuell jedoch noch Zukunftsmusik. Und solange das so ist, darf "Unwichtiges" gerne von künstlichen Automatismen bewältigt werden. Ja sogar wenn dann einmal zu viel Milch geliefert wird. Ob ich nun aber Salat oder Burger bestelle - das würde ich gerne immer noch selber entscheiden.