
Marc Opelt, Bereichsvorstand Vertrieb Ottos Plattform-Strategie: "Der Ansturm hat uns überrascht"
Marc Opelt ist Bereichsvorstand Vertrieb bei Otto.
Marc Opelt ist Bereichsvorstand Vertrieb bei Otto.
Dass Otto seinen Online Shop für Partner öffnet und zur Plattform werden will, stieß in Deutschland auf große Resonanz. Wir sprachen mit Marc Opelt, Bereichsvorstand Vertrieb bei Otto, über die Zukunftsstrategie der Hamburger.
Die Otto Group stellt sich bekanntermaßen neu auf. Wofür wollen Sie denn in Zukunft konkret stehen?
Marc Opelt: Wir bauen unser Unternehmen vom Händler in Richtung Plattform um und wollen uns dabei vor allem unserer Stärken bedienen. Im Bereich Home und Living beispielsweise sind wir Online-Marktführer in Deutschland. Das wird auch in allen Dingen, die wir machen, ein Schwerpunkt bleiben - nicht nur werblich, sondern auch in Sachen Investitionen, Services und Features. Das ist der eine Teil. Der andere Teil betrifft die Neuaufstellung der Marke Otto und die zukünftige Fokussierung auf die drei Markenattribute: persönlich, fair und inspirierend. Diese Attribute kommen sehr stark aus unserer DNA. Und da freut es uns natürlich, dass diese Themen inzwischen sehr viel relevanter werden. Die sogenannte Generation Z ist zwar mit der totalen Digitalität aufgewachsen und geht damit auch ganz natürlich um. Was sich aber ändert, ist die Perspektive auf Verantwortung. Die Nutzer möchten wissen, mit was für einem Unternehmen sie es zu tun haben. Sie möchten wissen, was ein Online Shop mit den eigenen Daten macht. Sie möchten auch wissen, wie ein Unternehmen mit seinen Mitarbeitern umgeht. Diese Entwicklung spielt uns in die Karten und sie passt zu uns. Wir legen großen Wert auf den fairen Umgang mit Mensch und Natur - im Umgang mit unseren Kunden, mit unseren Partnern, die im Plattformumfeld ein ganz neues Gewicht bekommen, mit unseren Mitarbeitern und mit unserer Umwelt. Das alles wollen wir in unserer Markenarbeit erlebbarer machen. Das ist eine riesige Aufgabe, aber das Interesse daran ist groß. Nicht nur bei unseren Kunden, auch bei den Partnern, die unseren Weg sehr gut finden.
Weil sie auf Plattformen wie Amazon andere Erfahrungen gemacht haben?
Opelt: Ich hörte davon.
"Das sind dann mal eben zwei, drei Start-ups on top"
Wenn man Amazon fragt, bezeichnen die sich aber auch als fairer Partner. Man muss sich ja schon fragen, was der Größe geschuldet ist und was bewusst unfaires Verhalten ist. Um den Fairness-Gedanken gegenüber den Partnern aufzugreifen - wo würden Sie anders vorgehen als Amazon? Sie müssen ja auch darauf achten, dass ihre Prozesse effizient ablaufen.
Opelt: Perspektivisch öffnen wir uns als Otto noch stärker und stellen unsere Plattform Otto.de Händlern und Marken zur Verfügung. Deshalb weisen wir unsere Partner auf unsere Spielregeln sowie unser Selbstverständnis als faire Plattform hin. Fairness bedeutet für uns nicht nur hohe Standards an unsere eigenen Produkte anzulegen, sondern an alle Produkte auf Otto.de. Der Wandel zur Plattform gibt uns die Chance, unsere Ansprüche an Fairness auch an andere Händler zu stellen. Alle Marken und Händler, die ihre Produkte auf Otto.de anbieten, unterschreiben unseren Code of Conduct. So sichern wir beispielsweise die Einhaltung von Mindestlohn und Höchstarbeitszeiten in den Produktionsstätten unserer Partner ab oder geben Anforderungen wie etwa das Verbot von Echtpelz weiter. Wir möchten Governance-Ansprüche auch nach vorne weitertragen und das im schlimmsten Fall auch zu Lasten von Wachstum. Im Zweifel für den Zweifel, wie es bei Tocotronic heißt.
Schauen wir mal auf Ihre Umsatzzahlen: Jochen Krisch kritisierte jüngst, dass sie zum achten Mal in Folge die acht Milliarden Euro Umsatzziel verfehlt haben, ihre Wachstumsraten zu gering seien und sie Marktanteile an die Konkurrenz verlieren. Was antworten Sie Herrn Krisch?
Opelt: Wenn wir mit 8,5 bis zehn Prozent wachsen, dann bedeutet das für uns immer 200 bis 300 Millionen Euro mehr Umsatz. Das sind dann mal eben zwei, drei Start-ups on top. Das gelingt uns jetzt seit acht Jahren in Folge. Gleichzeitig muss man bedenken, dass wir einen anderen Hintergrund haben: Wir sind mit einer Händlerhistorie gestartet und bauen die Plattform Otto nicht auf einer grünen Wiese. Wir müssen unsere alten Legacy-Systeme in kleine Stücke zersägen und modular auswechseln. Trotzdem wachsen wir in bestehenden Modellen mit bestehenden Prozessen, die sich ständig verändern, mit noch stark händlerorientierten Technologien. Aus der Perspektive sagen wir: Das ist schon ganz amtlich. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir die kritische Masse längst überschritten haben. Die Diskussion, wo es hingehen soll, haben wir in den 2000ern geführt. Wir hatten die ersten Plattformfähigkeiten in 2006. Da haben wir vielleicht das Potenzial nicht sofort vollständig erkannt. Aber wir waren immer extrem neugierig. Das ist auch der Grund, warum wir heute einer der erfolgreichsten Online-Händler in Deutschland sind.
Die Rolle von Sortimentskompetenz in einer technologisierten Handelswelt
Wenn Ihr Fokus künftig auf der Technologie liegt, welchen Stellenwert hat denn dann künftig Sortimentskompetenz?
Opelt: Insbesondere im Bereich Home und Living wird es auch in Zukunft extrem darauf ankommen, Sortimentskompetenz zu beweisen. Vor allem in den Bereichen, in denen wir selbst produzieren. Speziell beim Möbelthema ist uns aber auch der Servicegedanke extrem wichtig. Also etwa Aufbauservices, Mitnahme und Entsorgung alter Möbel und Geräte. Dazu kommt, dass die Customer Journey beim Möbelkauf auch komplexer und langwieriger ist. Die kognitiven Dissonanzen, die entstehen, wenn man über 2.000 Euro für ein neues Einrichtungsteil ausgibt, kann man gut heilen, wenn man Kunden einen tollen Service bietet, zu ihnen nach Hause kommt und dort alles direkt aufbaut.
Nochmal zurück zur Plattformstrategie. Sie haben angekündigt, 100 Millionen Euro investieren zu wollen. Wie viel des Weges haben Sie schon geschafft?
Opelt: Ich glaube nicht, dass Transformation einen Anfang und ein Ende hat. Kundenverhalten, Features, Technologien, Zugangswege - das alles ändert sich kontinuierlich. Auch in unserem Plattformprojekt reden wir von mehreren Jahren Entwicklungszeit und diese 100 Millionen sind das Budget für ein Jahr. Dabei versuchen wir, uns auf die Themen zu fokussieren, in denen wir bisher am wenigsten skalierbar sind. Da reden wir vor allem über das Partnermanagement. Mit unserem Self-Service-Portal Brand Connect haben wir ja schon angefangen, Partner möglichst optimal auf unsere Plattform zu bringen. Natürlich kämpfen wir auch mit Restriktionen. Die kommen aber eher über den Arbeitsmarkt, weil wir nicht so schnell rekrutieren können, wie wir das gerne möchten. Auf der anderen Seite ist es aber auch schön zu erleben, wie viele auch junge Menschen mehr als früher Lust haben, für Otto zu arbeiten. Mit drei Milliarden Euro Umsatz bieten wir den Menschen Herausforderungen, die kleine Firmen so vielleicht nicht bieten können. Wir haben allein im BI-Bereich 185 Leute - mit Praktikanten und Diplomanten sind es über 200. Die haben, nicht überall, aber in vielen Bereichen, auch große Freiheitsgrade. Und das macht denen tierisch Spaß.
Beim Onboarding neuer Partner beschränken Sie sich derzeit auf Händler, die über 1.000 Artikel im Sortiment haben. Warum?
Opelt: Wir wussten, dass der Markt auf eine Alternative wartet. Aber dass der Ansturm derart groß sein würde, hat uns selbst überrascht. Deswegen konzentrieren wir uns derzeit in der Tat vor allem auf größere Händler und Partner, da diese die technischen Voraussetzungen zur Anbindung an unsere Plattform in der Regel bereits mitbringen. Unsere Prozesse sind in diesem Bereich noch nicht voll automatisiert, da gibt es bisher noch viel Handarbeit. Und das schluckt Ressourcen. In den kommenden Monaten werden wir da aber deutliche Verbesserungen sehen und dann viel schneller als bisher auch kleinere Partner anbinden können. Brand Connect ist ja schon eine solch automatisierte Oberfläche, über die sich Partner im Self Service auf otto.de organisieren können. Dadurch wird der Anbindungsprozess nochmal deutlich einfacher.
Und trotzdem wollen Sie garantieren, dass da keine Grauimporte und andere Produktfälschungen auf der Plattform sind?
Opelt: Das ist unser Anspruch, und wir tun einiges dafür, diesen auch erfüllen zu können. Zum Beispiel mit Hilfe spezieller technischer Mechanismen, die Sortimente bereits vor ihrer Anbindung an otto.de prüfen.
Ist der Marktplatz auf Deutschland beschränkt?
Opelt: Ja, im Moment fokussieren wir uns auf Deutschland. Danach kommt die DACH-Region.
Wie man vom Tanker zum agilen Schnellboot wird
In letzter Zeit kommen im Wochenrhythmus neue Features von Otto auf den Markt. Ist das Zufall oder sind Sie wirklich agiler als früher?
Opelt: Sowohl als auch. Wir haben bei der Neuentwicklung von otto.de in Eigenregie vor einigen Jahren viel über Scrum und agile Vorgehensweisen gelernt. Dieses Wissen nutzen wir heute in nahezu allen Bereichen des Unternehmens. Das macht uns schneller. Wir haben in den vergangenen Jahren massiv in diese Fähigkeiten investiert. Und wenn andere über die Schnelligkeit am Markt stöhnen, sage ich immer nur: "Fang einfach an!". So machen wir’s bei vielen Themen: Augmented Reality, Künstliche Intelligenz, Conversational Commerce. Ein Beispiel: Wir wollten eine Bildersuche implementieren, mit der man sich ein ganzes Outfit zusammenstellen kann. Das kriegt man mit Prototypen auch sofort hin. Wenn man sich aber tiefgehender damit beschäftigt, erkennt man plötzlich ganz andere Usecases, zum Beispiel das Thema Produktdatenanreicherung. Wir sind jetzt in der Lage, durch Bilderkennung Produktdaten anzureichern. Dadurch wird sofort die gesamte Darstellung im Webshop optimiert. Und wenn wir Partner anbinden, können wir Lücken in den Produktdaten damit füllen.
Und woher kommen die Ideen zu den Features?
Opelt: Da passt das Credo unserer Entwickler: "Verliebe dich nicht in eine Lösung, sondern verliebe dich in das Problem." Die Suche nach dem Problem fängt beim Kunden an. Aufmerksamer denn je müssen wir dem Kunden zuhören, sein Feedback annehmen und sein Problem lösen. Mit den InnoDays haben wir bei Otto ein Hackathon-Format, bei dem sich die Kolleginnen und Kollegen aus den Technologiebereichen drei Tage lang in die „schönsten Probleme“ verlieben und Prototypen für Lösungsansätze entwickeln. Einige der Features, die wir übertragen haben, sind aus den "InnoDays" entstanden - beispielsweise die Bildersuche oder die Skills für den Google Assistant. Dass wir angefangen haben, Produktbewertungen intelligent zu filtern, war ebenfalls ein Kundenwunsch.
Für eher weniger Lob in der Fachpresse hat das neue Kundenbindungsprogramm gesorgt. Warum wirkt das so antiquiert?
Opelt: Wir haben auch hier die Entscheidung getroffen, dass wir erst einmal starten und einige Features mit unseren Kunden testen. Etwa die Lieferflatrate. Und das Wichtigste: Bei unseren Kunden kommt das Programm sehr gut an. Die Inanspruchnahme ist sehr groß und wir hatten innerhalb von zwei Wochen bereits über 500 Kundenbewertungen - 80 Prozent davon mit fünf Sternen. Für die Zukunft planen wir weitere Module, die dann einen etwas anderen Blick auf das Programm ermöglichen. Eines davon heißt zum Beispiel "Entertain", aber da wird noch mehr kommen.
Wir haben schon viel über BI gesprochen. Sie investieren viel Manpower in das Thema. Gleichzeitig haben Sie Blue Yonder verkauft. Warum?
Opelt: Wir haben mit Firmen wie Eventure und Project A immer geschaut, was wir selbst lernen können und wo genau wir investieren sollten. Blue Yonder war so ein Case, wo wir sehr früh ein lohnendes Investment sahen. Wir sind ja auch selber immer noch Kunde von Blue Yonder und haben zusammen viel gelernt. Aber aus der Investmentperspektive betrachtet, war jetzt einfach ein sehr guter Zeitpunkt, um auszusteigen. Und wenn Technologie und Intelligenz für das eigene Geschäftsmodell eine der wichtigsten Kernkompetenzen sind, muss man im Zweifel ganz viel Kompetenz selbst aufbauen. Für uns ist BI der Schlüssel zur Automatisierung. Und hinter allem, was mit Plattform und Transformation zu tun hat, muss immer ein enormes Automatisierungspotenzial liegen.
Sie machen das größte BI-Projekt Europas. Was steckt da unter der Haube?
Opelt: Das Projekt heißt "Brain". Früher hätte man dazu vermutlich Datenbank gesagt, heute hat es andere Dimensionen. Brain ist im Grunde genommen der Ort, aus dem sich die Intelligenz speist. Da findet die gesamte Datenversorgung statt für alles, was wir an BI-Anwendungen bauen. Wir haben inzwischen über 200 Services, die wir aus der BI in unserem Unternehmen anbieten.
Wie Hermes als Logistikpartner sich mit Otto mitentwickeln muss
Ein großes Asset, das Sie bereits haben und Amazon erst aufbaut, ist eine eigene Logistiktochter. Sind Sie damit zufrieden?
Opelt: Wir haben immer mit Hermes zusammengearbeitet und Hermes hat sich immer mitentwickelt. Aber mit unserer Entwicklung zur Plattform stellen wir Hermes natürlich vor neue Herausforderungen und Hermes muss mit uns in Sachen Volumina und Services wachsen. Die gemeinsame Konzernzugehörigkeit macht die Zusammenarbeit an vielen Stellen natürlich einfacher.
Was für Services wünschen Sie sich denn?
Opelt: Im Schwerpunkt wollen wir ja unsere Marktführerschaft im Möbelbereich weiterausbauen. Und da geht es darum, neue Möglichkeiten zu entwickeln. Wir haben den Aufbauservice. Wir haben den Musterservice. Aber vielleicht kreieren wir irgendwann noch einen Anpassungsservice oder Customized Möbel mit einer höheren Fertigungsgeschwindigkeit. Am Ende muss dann auch der Dienstleister in der Lage sein, entsprechend schnell zu liefern. Da haben wir noch einiges in petto. Und natürlich wollen wir derartige Serviceleistungen auch unseren Partnern zur Verfügung stellen.
Sie betonen das Thema Möbel so stark. Konzentrieren Sie sich in Zukunft vor allem darauf?
Opelt: Es ist ein Schwerpunkt, aber nicht der einzige Fokus. Aber dieser Teil des Online-Handels ist auf jeden Fall noch unterentwickelt. Das weckt auf der einen Seite große Begehrlichkeiten und ist auf der anderen Seite auch eine große Chance. Und natürlich macht es uns Spaß, dass das Thema einigermaßen komplex ist. Wir haben beispielsweise gerade 2,6 Millionen Euro in Computer Generated Imagery investiert. Bis Ende des Geschäftsjahres 2021/22 wollen wir mindestens 70 Prozent des gesamten Möbelsortiments und rund 35 Prozent aller Artikel im Bereich Haus- und Heimtextil in Form von CGI-Abbildungen darstellen. Damit müssen wir Möbel nicht mehr erst umständlich aufbauen und in Fotostudios fotografieren. Stattdessen bauen wir einmal die Technik auf und können dann ganz flexibel 50 verschiedene Oberflächen in 700 Farben und sechs Größen darstellen - und zwar ohne erkennbare Unterschiede zu einem echten Foto. Diese Daten können wir dann übrigens auch gleich für Augmented Reality-Darstellungen nutzen. Auch diese Möglichkeiten wollen wir irgendwann unseren Partnern anbieten.
Was sehen Sie denn noch als neue Trends?
Opelt: Über Bilderkennung und die riesige Bandbreite zur Datenqualifikation haben wir bereits gesprochen. Wir haben mit "alike" gerade eine App für die visuelle Möbelsuche gebaut. Auch in der Logistik und Prognostik ist noch viel drin. Wir haben Lösungen gebaut, die auf Artikelbasis die Bestellungen der nächsten Wochen prognostizieren. Das hilft uns, bei den Partnern dann entsprechend auch kleinere Mengen anzufordern, die unsere Läger nicht unnötig belasten. Und auch bei der Planung der Lagerschichten ist es wichtig, zu wissen, ob man etwa eine zusätzliche Schicht benötigt, um die steigende Nachfrage auch bedienen zu können. Auch Voice Recognition oder Intent Recognition sind Trends, in denen wir große Potenziale als Auslöser für Services sehen.