
Online-Handel "Ausländische Marktforscher lachen sich tot"
Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein
Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein
Der bevh rechnet den deutschen Online-Handel gerade in Grund und Boden. Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein, übt scharfe Kritik an der Methodik.
Wenn es nach dem bevh geht, dann wuchs der Online-Handel im dritten Quartal 2014 gerade einmal um magere zwei Prozent. In den deutschen Wirtschaftsmedien wird auf Basis dieser Zahlen aktuell schon das Ende des E-Commerce-Booms und der Siegeszug des stationären Handels gepredigt. INTERNET WORLD Business sprach mit Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein, über Sinn und Unsinn der aktuellen Erhebungen.
Herr Heinemann, inzwischen dürfte hinreichend bekannt sein, dass die aktuellen Wachstumsprognosen für den deutschen Online-Handel so niedrig ausfallen, weil die bevh-Zahlen in der Vergangenheit zu hoch angesetzt wurden. Doch signalisieren ja auch andere Studien wie beispielsweise vom EHI, dass die Stimmung im deutschen Online-Handel schon einmal besser war. Stimmt also vielleicht wenigstens der Trend, dass sich das Wachstum im deutschen E-Commerce abflacht?
Gerrit Heinemann: Das sehe ich nicht so. Es zeugt schließlich nicht von einer besonders sauberen Zahlenrecherche beim EHI, wenn man den deutschen Amazon-Umsatz nur halb so hoch ansetzt wie er tatsächlich ist. Was man anhand der EHI-Zahlen aber schon erkennen kann, ist, dass wir eine polarisierte Entwicklung haben. Amazon ist nach wie vor nicht aufzuhalten, wie die gerade veröffentlichten Quartalsergebnisse und Zuwachsraten zeigen. Diese liegen mit 21 Prozent in etwa auf Vorjahresniveau. Das gilt auch für den deutschen Markt und die deutsche Gesellschaft, die in diesem Jahr auf rund 15 Prozent Anteil am Gesamtumsatz von Amazon und wahrscheinlich über 12 Mrd. EUR Handelsvolumen kommt. Tendenz sogar steigend. Das Amazon-Wachstum von 21 Prozent steht für ein Drittel des gesamten deutschen Online-Handels. Selbst wenn alle anderen Händler ein Nullwachstum hätten, was so nicht ist, kämen wir auf ein Gesamtwachstum des Marktes von sieben Prozent. Nehmen wir die eBay-Zahlen dazu, die im Marktplatzgeschäft 15 Prozent Wachstum ausweisen und auf das Handelsvolumen hochgerechnet weitere 30 Prozent des Online-Handels abdecken, kommen wir für 60 Prozent des Marktes auf eine Wachstumsquote von 18 Prozent (21 Prozent von Amazon plus 15 Prozent von eBay geteilt durch zwei). Für den Gesamtmarkt käme man so auf ein Wachstum von zwölf Prozent. Da frage ich mich schon, wie der bevh auf zwei Prozent kommt. Als nächstes Unternehmen, das in keinem Ranking auftaucht, haben wir Apple Retail. Die erzielten im Webshop und mit iTunes in Deutschland in diesem Jahr einen Umsatz von drei Milliarden Euro, das Wachstum liegt deutlich über dem von Amazon und eBay. Mit Apple decken wir schon 70 Prozent des Marktes ab und kommen auf ein Gesamtwachstum von rund 20 Prozent. Wenn die Zahlen des bevh stimmen sollten, müsste der Rest des Marktes inklusive Zalando praktisch Nullumsatz gemacht haben. Aber auch die Multi-Channel-Händler wie Douglas und Galeria Kaufhof weisen hohe zweistellige Zuwachsraten auf.
Gibt es laut bevh nicht bei den Online-Buchhändlern relevante Umsatzrückgänge von 21 Prozent und bei Digitalumsätzen Rückgänge von 14 Prozent?
Heinemann: Der Online-Umsatz mit Büchern wird heute zu rund 20 Prozent mit E-Books realisiert. Doch diese Umsätze werden vom bevh nicht berücksichtigt. Mit derartigen Warengruppenumschichtungen beschäftigt sich offensichtlich der Verband gar nicht. Aber ich kann doch nicht hingehen und E-Books nicht zu Büchern zählen. Das wäre genauso, wie wenn man Elektrofahrzeuge nicht als Fahrzeuge definiert. Dadurch, dass die E-Bücher bei der Warengruppendefinition komplett durch den Rost fallen, fehlen dem Online-Buchhandel schon 20 Prozent des Umsatzes. Auch erklärt der bevh in seiner Methodik nirgendwo, wie mit dem Thema Mobile Commerce umgegangen wird. Wir werden in diesem Jahr einen M-Commerce-Anteil am Online-Handel von mehr als 20 Prozent erzielen. Das erklärt die Differenz.
Sind Sie sicher, dass der bevh keine M-Commerce-Umsätze erfasst?
Heinemann: Das ist nicht transparent. Ich habe mich mit der Methodik genau beschäftigt und diese auch mit der bis Anfang dieses Jahres dafür zuständigen Dame dort intensiv und kontrovers diskutiert. Da blieben viele Fragen offen. Zumindest wurde in den Gesprächen aufgedeckt, dass der bevh zum Beispiel die einzige Institution ist, die Online-Handelsumsätze inklusive Mehrwertsteuer ausgewiesen hat. Und auch die Frage nach unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen wurde zum ersten Mal von mir gestellt. Ich habe mir auch den Fragebogen angesehen. Ich wäre als Befragter völlig überfordert, wenn ich angeben sollte, welche der zig Warengruppen ich in welcher Betriebsform inklusive Mobile Commerce in der Vergangenheit gekauft haben soll. Das ist extrem fehleranfällig und auch mehr als bedenklich. Anerkannte ausländische Marktforscher lachen sich tot über das, was wir hier in Deutschland an Zahlen produzieren. Aus diesem Grund hat jetzt der HDE entschieden, das Zahlenthema zusammen mit der GfK methodisch neu aufzusetzen. Das ist schon mal ein großer und guter Schritt!
Wie sehen Sie denn selbst die Entwicklung?
Heinemann: Es kann sein, dass das Wachstum ab 2018 einstellig wird, aber auch nur, weil sich dann viele Online-Umsätze über Click & Collect in die Filiale verlagern. In England zeichnet sich das heute schon ab, daher liegt die Wachstumsquote 2014 „nur noch“ bei knapp 15 Prozent. Man geht davon aus, dass rund ein Drittel der Online- Umsätze durch Beteiligung der Filiale zustande kommen und im Web abgeschlossen wurden. Anders herum liegt der Anteil bei 12 Prozent. Insgesamt liegen die Multichannel-Umsätze bei rund 18 Prozent im Non-Food-Handel, werden aber nirgendwo erfasst. Eigentlich ist das Online-Umsatz, denn wenn es die Filiale nicht gäbe, würde die Ware zuhause zugestellt. Wenn die Multichannel-Händler ihre Hausaufgaben machen, könnten die reinen Online-Umsatzzuwächse ab 2018 einstellig werden. Trotzdem prognostiziert beispielsweise eMarketer für Gesamteuropa in einer konservativen Schätzung von 2013 bis 2020 noch locker eine Umsatzverdoppelung im Online-Handel.
Jetzt gibt es in Europa sicher noch ungesättigte Märkte, die für solche Wachstumsquoten sorgen können. Gibt es auch Zahlen für Deutschland?
Heinemann: Natürlich, aber auch da liegen die Prognosen in dem bereits genannten Korridor.
Was macht denn eMarketer besser als die Marktforscher hierzulande?
Heinemann: Die schauen einfach auch in die Unternehmensbilanzen – parallel zu den Befragungen. eMarketer, die ich noch Anfang Oktober in New York besucht habe und die derzeit auf mich den kompetentesten Eindruck beim Thema E-Commerce-Zahlen machen, beschäftigt eine Menge erfahrener, explizit ausgebildeter Marktforscher, die etwas von ihrem Handwerk verstehen. Beim bevh ist meines Wissens nicht ein Marktforscher oder Statistiker beschäftigt. Das ist eigentlich ein Unding.
Resultat dieses Undings ist, dass jetzt überall zu lesen ist, dass der Online-Handel stagniert und Unternehmen auf Basis dieser Zahlen ihre Business-Pläne aufsetzen. Das ist doch ein gefährliches Spiel mit dem Feuer?
Heinemann: Das ist auch deswegen gefährlich, weil es im Endeffekt nur Amazon den Rücken stärkt, weil keine digitalen Aktivitäten mehr dagegen gehalten werden. Dem Kunden ist das egal. Der kauft dann umso mehr bei Amazon. Wenn ich Mitglied wäre im bevh, dann würde ich mir das so nicht bieten lassen.
Warum wehrt sich denn niemand gegen solche Zahlen?
Heinemann: Die deutsche Presse- und Medienlandschaft übernimmt relativ unreflektiert Zahlen. Darüber hinaus sitzen in diesem Verband ja nicht die digitalen Cracks und Weltmeister. Die finden es ja vielleicht gar nicht so schlecht, wenn solche Zahlen veröffentlicht werden. Als im vergangenen Jahr die überhöhten Zahlen ausgewiesen wurden, musste sich der Versandhandel für sein einstelliges Wachstum rechtfertigen, weil die Branche ja vermeintlich um 40 Prozent wuchs. Vielen kommen die deutlich pessimistischeren Zahlen in diesem Jahr da sehr gelegen.