
Gastkommentar Das Märchen vom Ende des E-Commerce
Christian Maaß von Thomann Music wundert sich über die sich wiederholenden Abgesänge auf den E-Commerce. Er sagt: Überlebensfähige Handelskonzepte starten und skalieren in der Online-Welt - der stationäre Handel ist nur einer von mehreren Kundenkontaktpunkten.
Von Dr. Christian Maaß, MD und CDO Thomann Music
Jüngst veröffentlichte der Branchenverband E-Commerce die ernüchternden Wachstumszahlen: Die Umsätze im Online-Handel werden dieses Jahr voraussichtlich um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr sinken. Es erstaunt daher nicht, dass mal wieder vom Ende des E-Commerce-Booms die Rede ist. Dieses Ende wird im Übrigen in regelmäßigen Abständen verkündet.
2001 war es der Crash der New Economy und 2008 die Finanzkrise, aufgrund derer man den Abgesang auf den Online-Handel anklingen ließ. Nun ist es also wieder so weit, die Nachwehen der Corona-Krise mit den Verzerrungen der Lieferketten, der Krieg in Osteuropa und die damit einhergehenden Preissteigerungen und letztendlich auch der Markteintritt chinesischer Marktplätze wie Temu scheinen erneut Anlass zu geben, dass es mit dem Online-Handel nicht gut bestellt ist. Gestützt werden solche Aussagen in der Regel damit, dass der stationäre Handel sich die letzten Monate gut entwickelt hat und hier ein Comeback bevorstehe.
Relikt aus alten Zeiten
Bei näherer Betrachtung muss man sich allerdings fragen, wie man überhaupt zu solchen Einschätzungen kommt und was man damit bezwecken will. Allein schon die Differenzierung zwischen Online- und Offline Handel wirkt im Jahr 2023 als ein Relikt aus alten Zeiten.
Führen wir uns einfach vor Augen, wie heute neue Marken und Unternehmen aufgebaut werden: In der Regel starten sie in der digitalen Welt, da man hier über Influencer eine spitze Zielgruppe erreicht und zeitnah Feedback erhält, ob es einem überhaupt gelingt, eine gewisse Reichweite und damit Relevanz aufzubauen. Für die jüngeren Generationen ist die digitale Welt bereits heute die primäre Informations-/Inspirationsquelle - und damit auch der Schlüssel zum Kauf: YouTube, Instagram und Tiktok. Wenn man hier keine hinreichende Relevanz hat, für den wird es grundsätzlich schwer.

Dr. Christian Maaß ist seit Januar 2022 Managing Director und CDO bei Thomann Music.
Thomann Music
Gelingt es jedoch diese digitalen Kontaktpunkte in der physischen Welt zu verlängern, dann wird daraus ggf. ein Schuh. Beim Musikhaus Thomann initiieren wir zu diesem Zweck z. B. Master Classes und Influencer Events vor Ort, zumal viele unserer Kunden gar nicht wissen, dass ein zentrales Ladenlokal haben. Eine künstliche Trennung zwischen Online und Offline wäre hier kontraproduktiv.
Direkter Kundenzugang
Die Bedeutung eines solchen direkten Kundenzugangs und eine ganzheitliche Sicht auf den Kunden ist für die meisten Gründer selbstverständlich, da sie mehrheitlich digital aufgewachsen sind. Fußt die eigene berufliche Sozialisation hingegen im Umfeld mehrstufiger Handelskonzepte mit klarer Kanaltrennung, dann liegt genau an dieser Stelle oft eine mentale Hürde.
Denn allein schon die Frage danach, ob der E-Commerce-Boom zugunsten des klassischen Handels abflacht, führt mehr in die Irre als sie hilfreich wäre. Richtigerweise müsste man hervorheben, dass das reine Durchreichen von Handelsware im stationären Handel am Ende ist und das bereits seit geraumer Zeit. Aus diesem Grund arbeiten fast alle "klassischen" Händler seit Dekaden mit Eigenmarken, um die Handelsmarge zu verbessern. Was damals die Eigenmarken waren, das sind heute Retail Media und Marktplatz-Konzepte. Ganz wenige Unternehmen - wie z. B. About You - schaffen es sogar, ihre eigene Technologie im Stil von Amazon zu vermarkten, um komplementäre Einnahmequellen zu erschließen.
Alles steht und fällt mit dem Kundenzugang
Der klassische Handel ist von der Realisierung solcher Potenziale noch ein gutes Stück entfernt, denn alles steht und fällt mit dem (digitalen) Zugang zum Kunden und den damit zusammenhängenden technischen Grundlagen. Formulieren wir es so: Wenn der Daumen bei den meisten Personen unter 30 bis 35 Jahren aufgrund der intensiven Handynutzung bereits der Finger mit den ausgeprägtesten motorischen Fähigkeiten ist - bei den älteren Generationen ist es oft noch der Zeigefinger - dann ist dies ein klarer Indikator, dass der digitale Kundenzugang und ein Mindestmaß an technischen Kompetenzen über den wirtschaftlichen Erfolg entscheiden.
Je nach Branche gibt es naturgemäß Unterschiede und der Lebensmitteleinzelhandel bedarf sicherlich einer gesonderten Betrachtung. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass überlebensfähige Handelskonzepte in der digitalen Welt (a) starten, (b) skalieren und (c) der stationäre Handel schlichtweg nur einer von mehreren Kundenkontaktpunkten ist - nicht mehr und nicht weniger.
Dieser Kontaktpunkt muss sich anhand der gleichen betriebswirtschaftlichen Kriterien beurteilen lassen wie andere Kontaktpunkte auch. Dies ist allerdings eine Denkweise, die für digitale Gründer logisch und für Nachzügler im Digitalbereich befremdlich ist. Hinzu kommt der Umstand, dass die Aussteuerung moderner Handelskonzepte gewisse technische Grundlagen und Kompetenzen erfordert, die oft nicht uneingeschränkt vorhanden sind. Wenn man sich in so einer Situation darauf konzentriert, das traditionelle Filial-/Handelsgeschäft abzusichern, dann wird das eigene Schiff niemals das rettende digitale Ufer erreichen. Im Jahr 2023 ist aus strategischer und technischer grundsätzlich auch klar, wie man dieses Ufer erreichen kann - es steht und fällt allein mit dem mentalen Willen, sich auf andere Denkweisen einzulassen.
Fazit
Fassen wir es so zusammen: "Märkte sind Gespräche" und diese Gespräche finden bereits heute primär in der digitalen Welt statt. Wer an diesen Gesprächen nicht aktiv beteiligt ist, der findet schlichtweg nicht statt. Die analytische Trennung zwischen Online-/Offline-Kanälen und wer hier die Nase vorne hat, ist vor diesem Hintergrund überhaupt nicht hilfreich, dem Kunden ein besseres Kauferlebnis zu bieten.
Wir sollten uns daher nicht von technischen Trends oder tradierten Ansichten ablenken lassen und schlichtweg hinterfragen, was unsere Kunden ganz genau sagen, machen und möchten. Dann muss man nur noch stringent "handeln".