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Schwarzer Schwan

D2C in der Rezession Wer hat Angst vorm schwarzen Schwan?

Shutterstock / Muratart
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Aus der Corona-Pandemie kam der Online-Handel und mit ihm die D2C-Branche gestärkter hervor als jemals zuvor. Doch jetzt warnen immer mehr prominente US-Tech-Investoren vor einem Black Swan. Was bedeutet das für D2C-Brands und die D2C-Ambitionen der Corporates?

Von Ralph Hübner und Daniela Zimmer

Der E-Commerce mag Einhörner. Black Swans hingegen kennt die Branche bislang nur aus dem Ballett. (Und wer es auch im wirtschaftlichen Zusammenhang nicht kennt: Ein Black Swan ist laut Wikipedia der Anglizismus für unerwartete und unwahrscheinliche zukünftige Ereignisse mit erheblichen Auswirkungen).

Als andere Geschäftszweige in den Hochzeiten der Corona-Krise um Staatshilfen betteln mussten, wurde der digitale Handel und sein dazugehöriges Dienstleister-Ökosystem mit Investorengeldern regelrecht geflutet. Doch nun wendet sich das Blatt. Krieg, Lieferkettenprobleme, eine schwierige Währungs- und Zinssituation, Blasen im Immobilien- und Techbereich und eine steigende Inflation verbunden mit sinkender Konsumlust der Verbraucher vermengen sich auch für die Digitalwirtschaft zu einem toxischen Cocktail. Und der könnte nach der Party für einen länger andauernden Kater sorgen.

"Will haben sofort" funktioniert nur noch bei echtem Product Market Fit

Für das D2C-Geschäft heißt das zunächst einmal: die Kaufkraft schwindet. Gerade mittlere und untere Einkommensschichten sind mit Blick auf die Inflation und steigende Energiepreise gezwungen, auf unnötige Ausgaben zu verzichten. Statt in der Innenstadt bummeln zu gehen, kaufen sie gezielt, was dringend nötig ist oder ein gutes Preis-Leistungsverhältnis verspricht. Und auch in den meisten anderen Einkommensschichten wird es nicht mehr reichen, Kunden zum Klick auf den Kaufen-Button zu animieren, nur weil Influencer lieblich lächelnd irgendwelche Produkte vor ihre Instagram-Linse halten. Stattdessen muss die Kommunikation darauf fokussieren, welche Benefits ein Produkt verspricht oder wie andere Käufer das Produkt bewerten.

Schon an dieser Stelle trennt sich die Spreu vom Weizen: Eine Chance, von der Krise sogar zu profitieren, haben die D2C-Brands, die sich mit ihren Produkten bereits im Markt etabliert haben und mit einer treuen Community und guten Reviews ihren Product Market Fit unter Beweis stellen. Für andere Unternehmen, die mit ihrer Idee erst jetzt starten wollen, oder Investorengelder brauchen, werden absehbar die kommenden sechs bis zwölf Monate zur echten Bewährungsprobe. Das betrifft nicht nur die D2C-Brands selbst, sondern auch das schon eingangs erwähnte Dienstleister- und Software-Ökosystem. Sie alle müssen mehr oder minder ohnmächtig mitansehen, wie die Finanzwelt von einem Extrem ins andere springt: Wurden im Jahr 2021 in der Digitalbranche die meisten und höchsten Finanzierungsrunden aller Zeiten erzielt, könnten es 2022 vielleicht die niedrigsten seit zehn oder 20 Jahren werden.

VCs sehen schwarz

Die Grand Seigneurs der VC-Welt wie z.B. Y Combinator, Sequoia oder Andreessen Horowitz haben bereits vor Wochen verkündet, dass es selbst für gute Unternehmen sehr schwer werden wird, in den kommenden sechs bis 12 Monaten eine erfolgreiche Finanzierungsrunde zu vernünftigen Bewertungen abzuschließen. Ihre Warnungen werden belegt durch aktuelle Zahlen von CapIQ: Demnach wurden Software-Hersteller zur Hochzeit im Oktober 2021 noch mit etwa dem Zwölffachen ihres Umsatzes bewertet, im Mai hatten sich die Multiples auf Fünf mehr als halbiert. 

Die Multiples für Software-Hersteller haben sich seit November mehr als halbiert

CapIQ

Gorillas-Gründer Kagan Sümer war einer der ersten, der (öffentlich) Konsequenzen zog und die Hälfte seiner Zentrale entlassen musste. In einem offenen Brief an seine Mitarbeiter skizzierte er die Situation mit den Worten: "Vor zwei Monaten haben sich die Märkte auf den Kopf gestellt und seitdem hat sich die Situation weiter verschlechtert. Sehr schnell wurde Gier in den Märkten ersetzt durch Vorsicht. Und Tech-Unternehmen, vor allem die mit niedrigen oder negativen Margen, sehen sich sehr starkem Gegenwind ausgesetzt. Das Ergebnis dieser neuen Realität ist, dass Wohlstand und Geld in Geschäfte mit niedrigem Risiko transferiert werden. Das wird in der Q-Commerce-Branche einen natürlichen Selektionsprozess auslösen."

Auch Y Combinator wählte das Medium "offener Brief", um den Start-ups in seinem US-Portfolio dringend nahezulegen, sich in den kommenden 30 Tagen vor allem darum zu kümmern, ihr finanzielles Überleben abzusichern. "Der sicherste Plan ist, sich auf das Schlimmste vorzubereiten", heißt es in dem Schreiben. Das Ziel sollte sein, einen "Default-Alive"-Status zu erreichen, in dem ein Unternehmen aus eigener Kraft mit seinem verfügbaren Kapital und den eigenen Umsätzen so lange überleben kann, bis die Märkte sich wieder drehen.

Jetzt schlägt nicht die Stunde der Zocker-Investoren, sondern der alten Hasen und breiter aufgestellten Häuser

Wer das nicht schafft, sollte aus Sicht des Star-Investors so schnell wie möglich Geld aufnehmen oder eben Kosten einsparen, das heißt Umschwenken vom Wachstumsprimat zu mehr Effizienz bzw. schnellerem ROI. Das gilt insbesondere für diejenigen Gründer, die sich nicht mehr mit eigenen Mitteln von Friends & Family finanzieren, sondern denen die Investoren im Nacken sitzen. Als "Luxus" gilt, was nicht nachweisbar innerhalb der kommenden sechs bis zwölf Monate Wachstum bringt. Entsprechende Spar- oder Effizienzprogramme sind in einschlägigen Portalen für jeden schnell zugänglich. Und eine Tabelle von Andreessen Horowitz hilft in verschiedenen Reife- und Wachstumsstadien bei der Einschätzung und Optimierung der eigenen Burn Rate.

Der VC gibt Empfehlungen für akzeptable Burn Rates je nach Umsatzklasse

Andreessen Horowitz

Doch im selben Atemzug wird von den denselben großen Investoren postuliert: Es ist nie leichter, Marktanteile zu gewinnen, als in einer Krise. Deshalb fokussieren die Investoren ihre Kapitalreserven in den aktuellen Fonds auch auf ihre "guten" Portfolio-Unternehmen. Diese werden jetzt vielleicht nicht mehr so schnell zu (virtuellen) Einhörnern, aber dafür zu echten Champions in der Realwirtschaft.

Viele D2C-Gründer sind nicht (wirtschafts)krisenerprobt

Als große Herausforderung könnte sich zudem erweisen, dass viele D2C-Gründer so jung sind, dass sie bis heute keine einzige Wirtschaftskrise durchlebt haben und die Pandemie eher als Stress-, aber vor allem Boost-Phase erfahren durften. Jetzt muss sich zeigen, ob eine "Die Welt steht uns offen"-Unternehmenskultur in handfesten Krisen auch enger geschnallte Gürtel und kürzere Befehlsketten verkraftet und die Gründer über das entsprechende Mindset für gutes Krisenmanagement verfügen. Hier ist von sehr starken Lerneffekten im Markt auszugehen.

Und die Corporates? Sie wären in der Krise schlecht beraten, Kosten zu sparen, indem sie ihre in der Corona-Pandemie gestarteten D2C-Projekte auf Halde legen. Denn gerade in der Krise wird der Direktzugang zu den eigenen Kunden und der Aufbau treuer Communities wichtiger als je zuvor - und unter Umständen auch leichter. Denn nicht nur durch die Entlassungen der Marktbegleiter wird der Talentemarkt wieder zugänglicher als in den vergangenen Jahren. Auch ein sicherer Arbeitsplatz bei einem Mittelständler oder Großkonzern könnte wieder an Bedeutung gewinnen.

Corporates sollten sich nach M&A-Optionen umschauen

Darüber hinaus steht für Corporates, die das Thema D2C ernsthaft auf der Agenda stehen haben, der Wind günstig, um den Markt sehr genau zu screenen. Zwar ist es noch zu früh, das generelle Halali zur Schnäppchenjagd zu blasen. Gerade gebootstrappte Start-ups - und davon gibt es in Deutschland viele - haben einen langen Atem, weil im Zweifel Familie und Freunde noch einmal Geld zuschießen. Aber wer die Szene genau beobachtet, bekommt vielleicht die einmalige Gelegenheit, D2C-Brands zu Bewertungen zu übernehmen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar waren. Für viele etablierte Marken könnte jetzt ein einmaliges Zeitfenster aufgehen, um ihre D2C-Ansätze im Markt durchzusetzen und sich so Marktanteile bzw. Kundenzugänge zu erschließen. Vielleicht sinken ja sogar die Klickpreise….

Zur größten Challenge für die Corporates könnte (temporär natürlich) das Thema Preis werden: Wenn Händler abverkaufen müssen, um ihr Überleben zu finanzieren, sind Preiserosionen vorprogrammiert. Das allerdings steht dem Mindset der Hersteller entgegen, die üblicherweise so wenig preisgetrieben wie möglich zu agieren versuchen. Hier heißt es, Backen aufpusten und Ohren anlegen - und warten, bis der schwarze Schwan sich endlich wieder von dannen macht.

Wie immer muss man sich bewusst machen: Jede Krise ist Bedrohung und Chance zugleich. Am Ende wird es auch wieder Einhörner geben, die in einem bereinigten Markt voll durchstarten können.

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