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Secondhand-Strategie Circular D2C: Mega-Chance für Fortgeschrittene und Krisenmutige

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Im D2C-Zeitalter, gepaart mit einer Klimakrise und Rezession (to come), ist das Thema Circular Economy eine ganz große Chance für viele etablierte Markenhersteller - vielleicht sogar die größte übersehene Chance der vergangenen Jahre.

Von Ralph Hübner und Daniela Zimmer

Rund 96 Milliarden US-Dollar wurden einer Studie von ThredUp zufolge im Jahr 2021 weltweit mit Secondhand-Mode erwirtschaftet. Bis zum Jahr 2025 soll sich dieser Wert auf 196 Milliarden US-Dollar verdoppeln. Damit wächst der Secondhand-Modemarkt weltweit drei Mal schneller als der Erstmarkt. Doch die Fashion-Brands selbst bekommen von diesem Kuchen bislang kaum einen Krümel ab. Nur ein Prozent der ­Umsätze im Secondhand-Geschäft fließt Branchenschätzungen zufolge über einen eigenen Check-out zurück in die Kassen der Hersteller.

Strategien für den Zweitmarkt

Allerdings gewinnt der Markt an Fahrt. Und nicht nur in der Mode, sondern auch in anderen Branchen müssen die ­Hersteller der Tatsache ins Auge sehen, dass sie absehbar nicht nur eine D2C-Strategie, sondern auch Strategien für den Zweitmarkt brauchen. Denn aktuell kommen sie gleich von mehreren Seiten in die Klemme: Kunden erwarten schon bei der Materialauswahl, dass Hersteller zirkulär denken. Durch die wirtschaftliche Krise aber auch den generellen Trend zu Nachhaltigkeit wandert Nachfrage in Second-Hand-Kanäle. Und Investoren fördern das Thema und ermöglichen dadurch, dass immer mehr Kanäle, aber auch Dienstleister entstehen, die den Brands dabei helfen, diese Kanäle zu bedienen.

Laut der Studie "Marktplatzwelt 2022" von ecom consulting und gominga sind mit Ausnahme von Food & Beverages sowie Health & Beauty inzwischen alle Kategorien auf Online-Marktplätzen von Second-Hand-Anbietern tangiert. Von insgesamt 214 Consumer-Marktplätzen, die die Autoren in ihrer Landscape auflisten, bieten 72 auch nachhaltige Produkte oder Second-Hand. Den Brands dürfte daran gelegen sein, die Darstellung dieser Produkte, die für den Erstmarkt penibel genau definiert wurde, auch im Zweitmarkt unter Kontrolle zu behalten. Darüber hinaus müssen sie sich klar machen: Wenn sie den Markt nicht selbst besetzen, wird es über kurz oder lang die Konkurrenz tun.

Kategorie Heatmap

Mit Ausnahme der Bereiche DIY, Food & Beverages sowie Health & Beauty bieten Online-Marktplätze für alle Kategorien auch gebrauchte Produkte an.

ecom consulting / gominga

Kein Wunder also, dass immer mehr Hersteller - darunter Nike, Ikea, Timberland, Lululemon, Levi’s, Hugo Boss, Isabel Marant, Burberry, Adidas oder Armed Angels, anfangen, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Aber hier die passende Strategie zu entwickeln und sich gegebenenfalls den kritischen Nachfragen seiner Handelspartner zu stellen, ist noch einmal um ein Vielfaches komplexer als das auch schon nicht ganz triviale D2C-Geschäft mit Neuware. Denn es ist nicht damit getan, einfach eine Abteilung für Circularity zu eröffnen. Vielmehr muss die komplette Prozesskette im Unternehmen - bis zu Logistik und Customer Care - im Unternehmen neu aufgestellt werden. Und die allermeisten Software-Landschaften brauchen auch ein deutliches Upgrade, wenn man zusätzlich auch gebrauchte Ware einkaufen, bewerten und beschreiben sowie verkaufen will.

Machen oder machen lassen - das ist für viele Brands eigentlich keine Frage

Im Prinzip gibt es für Brands abgesehen von Produktdesign und Produktion zwei Alternativen, sich zirkulär aufzustellen:  Entweder überlassen sie es komplett Dritten (Spezialisten), ihre wiederverwertbaren oder recyclingfähigen Produkte neu zu beleben und wirken dabei lediglich prozessunterstützend, indem sie beispielsweise für autorisierte Partner ein Qualitätssiegel nach dem Motto "zertifzierte Markenware" herausgeben. Oder sie kümmern sich selbst um die Rücknahme, Wiederaufbereitung und Qualifizierung ihrer Produkte.

Entscheiden sie sich für letzteres, stellt sich die nächste strategische Frage, ob auch der Wiederverkauf in Eigenregie gestemmt werden soll, ob dafür ausgewählte Händler autorisiert werden und ob die Ware auch auf Plattformen wie eBay, Momox, Amazon, Rebuy oder Backmarket platziert werden darf). Wer als Markenhersteller auch den Wiederverkauf selbst managen will, muss sich entscheiden, ob dies über den eigenen Shop (inklusive ggf. Garantie, Fulfillment und Customer Care), über eine neue Subbrand analog der "Jungen Sterne" von Mercedes oder mittels irgendwelcher “Undercover” Brands und Kanäle geschehen soll.

Janis Künkler, Co-Founder und Managing Director von reverse.supply, plädiert eindeutig dafür, dass Brands ihre gebrauchte Ware auch wieder über den eigenen Shop vertreiben. "Secondhand ist ein wahnsinnig interessantes Thema für Brands, die D2C betreiben, weil man dadurch Leute in den Shop bekommt", sagt er. "Es ist kommerziell interessant, denn mit unserem Modell verdient die Marke an jedem verkauften Artikel nach Abzug aller Kosten bares Geld." Und schlussendlich würde eine Marke auch noch zusätzliche Daten über seine Kunden und die Verwendung der eigenen Produkte sammeln. "Ich weiß plötzlich, welche Persona meine gebrauchte Prada-Handtasche nutzt, und kann diese Leute auch adressieren", erzählt Künkler. "Ich erkenne leichter, was ein Produkt zu einem Hype-Produkt macht. Und ich erfahre Neues über die Schwachstellen meiner Produkte und kann diese bei der Produktion von Neuware mitberücksichtigen."

Gegen Secondhand ist D2C Kindergarten

Als Resale-as-a-Service-Anbieter nimmt reverse.supply den Marken die gesamte Prozesskette ab – derzeit vor allem im Modebereich. In Deutschland ist das Start-up eigenen Angaben zufolge der einzige Anbieter, der Brands beim Resale ihrer Produkte über den eigenen Webshop unterstützt. In den USA bringen sich noch weitere Player wie Trove, Faume oder ThredUp als Partner zirkulär denkender Marken in Stellung. "Wir haben ein extrem skalierbares System aufgebaut, das wir auf fast alle Textilprodukte anpassen können", erzählt Künkler. Wenn beispielsweise ein T-Shirt einer bestimmten Marke eintrifft, werden die Mitarbeiter computergestützt durch ein komplexes Bewertungsystem geleitet, das Hinweise gibt, ob man bei diesem Produkt besonders auf die Nähte oder auf das Logo achten muss. Der gesamte Prozess dauert nur wenige Sekunden. 

Ist die Bewertung abgehakt, geht es um die Beschreibung der Ware im PIM. "Die Herausforderung bei Second Hand ist, dass jedes Stück individuell und einzigartig ist", sagt Künkler. Trotzdem würden die Kunden einen Kaufprozess erwarten, der ähnlich funktioniert wie für Neuware. Also müssen die Mitarbeiter von reverse.supply die Ware fotografieren und beschreiben. "Mit unserem Fotoprozess können wir die Artikel in weniger als einer Minute von der Vorder- und Rückseite sowie in Detailansichten fotografieren. Das schaffen normale E-Commerce-Händler nicht", sagt der Gründer. Die Produktbeschreibungen generieren sich über ein Textblocksystem, über das Mitarbeiter anhand von Drop-Down-Menüs, Farbe, Textilkennzeichnung, Größe usw. zusammensetzen. "Wir schaffen es so, einheitliche Produktbeschreibungen für Artikel, die vor 15 Jahren als Neuware verkauft wurden, zu erstellen", so Künkler.

Auch bei der Vereinnahmung der Einzelstücke in den Shop und dem Versand scheitern die meisten Modemarken schon im Hinblick auf die dafür notwendige Software. Denn bei jedem Produkt muss kontinuierlich getrackt werden, was eingeschickt und was verkauft wurde. reverse.supply hat dafür eine Warenwirtschaft für Single-SKUs aufgebaut.  "Die Logistiksoftware und ERP-Systeme, die Modemarken klassischerweise nutzen, wären mehrheitlich überfordert. Deshalb bieten wir technische und operative Infrastruktur aus einer Hand - bis zum Versand und der Retourenabwicklung“, erklärt der Gründer.

Gegen die Blackbox Pricing hilft unter anderem ein Algorithmus

Ein wesentliches Benefit im Dienstleistungsportfolio ist aber auch das Pricing. "Modemarken wissen in der Regel perfekt, zu welchem Preis sie Neuware verkaufen können. Sobald die Ware einmal über den Ladentisch gegangen ist, gibt es eine riesige Blackbox, so die Erfahrung von Künkler. Doch das Definieren konkurrenzfähiger An- und Verkaufspreise sei notwendig, damit Verkäufer aber auch Käufer lieber den Shop der Marke nutzen als zu eBay zu gehen.

Allerdings müssen die Brands bei der Pricing-Strategie von Second-Hand-Ware, die sie im eigenen Webshop verkaufen, auch die Preise der Neuware im Shop berücksichtigen. Denn was macht man mit saisonalen Rabatten auf Neuware, wenn Second-Hand-Produkte im Shop "nur" mit 30 oder 40 Prozent Rabatt verkauft werden. Parallel zur Preisfrage stellt sich auch die Frage zum Timing: Ab welchem Zeitpunkt soll Secondhand-Ware überhaupt in den Wiederverkauf gelangen? Und wie vermeidet man, dass Ware, die in verschiedenen Märkten zu verschiedenen Zeiten gelauncht wird, nicht schon vor dem Go-Live in einem Markt vergünstigt als Second-Hand-Produkt zur Verfügung steht?

Wenigstens auf die von Marken häufig gestellte Frage, ob sich das Second-Hand-Engagement finanziell lohnt oder nur das bestehende Geschäft kannibalisiert, hat Janis Künkler von reverse.supply eine eindeutige Antwort: Die bisherigen Daten ließen keinen Rückschluss auf Kannibalisierung zu. Stattdessen eröffne das Second-Hand-Angebot Zugang zu neuen Kundenschichten, die wegen Second-Hand-Ware in den Shop kommen, aber häufig zusätzlich auch noch Neuware in den Warenkorb legen. 

Kundenbindung erhöhen

Doch nicht nur zur Neukundenakquise eignet sich das Instrument. Auch die Kundenbindung steigt, wenn Kunden im Ökosystem der Brand ihre alten Produkte wieder zu Geld machen können. Die Magie liegt hier im “Single Point of Contact”. Ähnlich wie Apple oder Woom-Bikes es bereits erfolgreich praktizieren, ist es für Konsumenten wirklich eine begeisternde und erleichternde Erfahrung, wenn man den gesamten Prozess über einen Touch-/Zahlungs- und Passwort-Point machen kann.

Strategisch-taktisch spannend ist aus Markensicht dann die Frage, ob Ware in Form von Gutscheinen angekauft oder tatsächlich Geld ausgezahlt werden soll. Janis Künkler rät den Marken, auch die Möglichkeit der Barauszahlung zu nutzen. “So bekommen sie gute Produkte und letzten Endes geht es ja darum, ein tolles Angebot zu haben. Da hilft der Gutschein alleine nicht”, sagt er. Die Kunden seien in ihren Präferenzen indifferent: “Wo sie die Wahl haben zwischen Bargeld oder Gutschein, ist die Verteilung 50:50”, so der Gründer.

Während große Corporates mit 5.000 bis 20.000 Artikeln im Sortiment darüber nachdenken müssen, wie sie ihren Kunden erklären, warum der Fernseher in den Resale geht, der ökologisch bedenklichere Kühlschrank aber nicht, ist für die jungen D2C-Brands die Prozesswelt beherrschbarer. Sie haben in der Regel viel kleinere Sortimente und können Dinge in einer geschützten Umgebung einfach ausprobieren, ohne mit ihren Händlern diskutieren zu müssen. Gut möglich also, dass es die D2C-Brands sein werden, die mit Ideen und Impulsen die etablierten Hersteller vor sich hertreiben. Im Gegensatz zu manchen Corporates haben sie das D2C-Geschäft 1.0 mit Neuware schon perfektioniert und sich dadurch den Raum erarbeitet, jetzt in den D2C-Handel für Fortgeschrittene mit Second-Hand-Produkten einzusteigen.

Allen etablierten Markenherstellern bleibt nur zuzurufen: Arbeitet Euch durch den Entscheidungsbaum und findet den oder die zu Euch passenden Pfade (sowie Kanäle und Dienstleister)! Jetzt ist die perfekte Zeit dafür.

Der Entscheidungsbaum zur Findung einer eigenen Circular-D2C-Strategie hat viele Zweige.

D2C Advisors / D2C-Radar

Ausgewählte Resale-Projekte von Brands:

Louis Vuitton betreibt mit Nona Source eine Plattform für Materialreste nach der Fertigung

Nike gestaltet mit “Nike Re-Creation” Ladenhüter und Second-Hand-Ware lokal um

Madewell kooperiert mit Thredup

Armed Angels lanciert eigene Resell-Plattform

Adidas launcht Rücknahme-Programm für Sportmode

Burberry kooperiert mit My Wardrobe HQ

Lululemon startet US-Programm für Wiederverkauf

Levis tauscht Jeans gegen Gutschein

C&A verkauft Secondhand-Kleidung https://locationinsider.de/dm-plant-elektronischen-kassenzettel-hellofresh-baut-zweite-produktion-wie-der-neue-amazon-chef-tickt/

Hugo Boss steigt ins Resale-Business ein

Isabel Marant startet Vintage-Plattform in Deutschland

Ikea startet Buyback-Service in den USA

Weiterführende Lesetipps:

How disruptive could a Nike-owned resale platform be?

The Troubles of an own Resale Program

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