
Gastkommentar Deutsche Autobauer im E-Commerce ausgebremst
Gerrit Heinemann ist Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein
Gerrit Heinemann ist Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein
Portale greifen sich auch in der Autobranche zunehmend die Kundenbeziehung und wirbeln etablierte Wertschöpfungsketten durcheinander - was aber ist die Antwort von BMW und Co darauf?
Von Gerrit Heinemann
Stefan Quandt hat es anlässlich der Verleihung des Herbert-Quandt-Medienpreises im Sommer überdeutlich gesagt: Der größte BMW-Aktionär empfiehlt, die Digitalisierung nicht als Gespenst an die Wand zu malen, sondern deren Chancen im Verbund mit den ureigenen Stärken gezielt zu nutzen, denn die Zeit dränge. Vor allem die Kundenschnittstellen müssten verteidigt werden, über die man derzeit (noch) die Hoheit innehabe: "Aber nur, wer direkt mit seinen Kunden kommuniziert, wird ihre Wünsche verstehen; und nur wer sich konsequent an diesen Wünschen orientiert und für die entsprechenden Bedürfnisse die beste Lösung anbietet, wird letztlich im Wettbewerb bestehen können".
Alleinstellungsmerkmale gehen verloren
Dieser Satz erinnert an Jeff Bezos. Zugleich bringt er eine Entwicklung auf den Punkt, die in nahezu allen Branchen zu beobachten ist und wohl alle bisherigen Wertschöpfungsketten auf kurz oder lang auf den Kopf stellen wird: Die digitale Revolution treibt die Entkopplung bisheriger Wertschöpfungsketten voran, wodurch klassische Anbieter wesentliche wertschöpfende Aktivitäten nicht mehr wahrnehmen können respektive werden.
An ihre Stelle treten - beispielsweise an der Kundenschnittstelle - Infomediäre mit herausragender Angebotsvielfalt, Makler mit unendlich großer Auswahl über Longtail, Empfehlungs-Engines mit individuellen 1:1-Empfehlungen, Preis- und Produktsuchmaschinen mit Beratungsfunktion sowie soziale Netzwerke, die vertrauenswürdige Meinungen und Empfehlungen anderer Freunde bündeln.
Bisherige Intermediäre - wie der stationäre Handel - haben dadurch bereits ihr Alleinstellungsmerkmale an der Kundenschnittstelle verloren und spielen vielfach keine dominierende Rolle mehr für die Produktauswahl der Kunden. Sie verlieren für den Internetnutzer immer mehr an Relevanz, wodurch auch die Bindung und demzufolge Zahlungsbereitschaft der Konsumenten weiter zurückgeht.
Das Internet als "Point of Decision"
Für eine nicht mehr wahrgenommene respektive in Anspruch genommene Wertschöpfung sind diese nicht mehr bereit, ein Premium zu zahlen. Das Vorhalten von Beratung und Bedienung wird damit zunehmend weniger erfolgskritisch. Bereits heute beginnen Käufer - ob B2B oder B2C - ihren Einkauf mehrheitlich im Netz.
Alle Studien zu dem Thema weisen Suchmaschinen, E-Marktplätze, Preisvergleichsseiten sowie auch Branchenportale als erste Anlaufstelle für Kunden aus. Stark zugenommen haben diesbezüglich im letzten Jahr Preisportale, die von mittlerweile 47 Prozent der mobilen Internetnutzer angesteuert werden, verglichen mit 44 Prozent gegenüber 2013 - und das bei 51 Prozent mehr mobilen User. Im gesamten Kaufentscheidungsprozess gewinnt das Internet als "Point of Decision" gegenüber dem "Point of Sale" immer stärker an Bedeutung.
Die Kaufentscheidung fällt dabei zunehmend produktbezogen, die Anbieterauswahl immer mehr faktenbasiert. Je nach Erreichbarkeit, Preis, Verfügbarkeit und Service wird der Verkaufspunkt erst ausgesucht, wenn das Produkt im Web bereits gefunden wurde. Das Auffinden der richtigen Information bietet dem Kunden mittlerweile den größten Nutzen und wird zum wertvollsten Teil der Wertschöpfungskette. Hierfür ist keine direkte Kundenbeziehung notwendig und durch die zunehmende Verbreitung von Smartphones - gepaart mit der steigenden Nutzung schneller, mobiler Internetverbindungen - wird die richtige Information überall sofort auffindbar.
Mit seiner Warnung liegt Herr Quandt also genau richtig. Es ist zu begrüßen, dass er Europas Unternehmen dazu aufruft, Apple, Google und Co Paroli zu bieten und den eigenen Kontakt zum Kunden zu verteidigen. Dennoch erscheint es angebracht, seine Thesen aus einer anderen Sichtweise zu prüfen. Vor allem stellen sich folgende beiden Fragen: Erstens, wie es denn in seinem eigenen Hause in digitaler Hinsicht bestellt ist, und zweitens, ob seine "Mittel gegen das Sendungsbewusstsein des Silicon Valley“ wirklich ausreichen.
Die digitale Situation in der BMW Group
Zunächst zur ersten Frage, der digitalen Situation in der BMW Group, die er und seine Familie mit immerhin 46,7 Prozent dominieren. Ein Blick auf die BMW-Struktur offenbart, dass die Führungsorganisation eine lupenreine funktionale mit klassischer Arbeitsteilung nach Einkauf, Produktion und Vertrieb ist. Bereits seit mehr als zehn Jahren weisen jedoch die Erkenntnisse des Business Reengineering darauf hin, dass funktionale Organisationen eher nicht geeignet sind, den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht zu werden. Nicht einmal einen CDO (Chief Digital Officer), der das doch so wichtige Zukunftsthema explizit verantworten könnte, gibt es im BMW-Vorstand.
In derartigen eher produktions- und produktorientierten Führungsstrukturen, in denen Organisationsänderungen im mittleren und für das Tagesgeschäft verantwortlichen Management manchmal jahrelang beantragt werden müssen, kann die Geschwindigkeit nicht aufkommen, die für das digitale Zeitalter erforderlich ist. Digital ausgerichtete Organisationen lösen sich von der funktional orientierten Ausrichtung und stellen die Leidenschaft und Glaubwürdigkeit der gesamten Unternehmensführung und ein bedingungslos am "digitalen Kundenwunsch“ ausgerichtetes Unternehmen in das Zentrum der geschäftlichen Aktivitäten, inklusive CDO. Diese Art der "Kundenzentriertheit“ durchdringt das komplette Geschäftssystem des Unternehmens und gibt Mitarbeitern zugleich einen Orientierungsrahmen für ihre täglichen Entscheidungen vor.
BMW, Tesla und Mercedes
Nicht nur globale Internetunternehmen haben dieses erkannt, auch Tesla folgt diesem Beispiel und verkauft sogar Neufahrzeuge ausschließlich online. In wenigen kleinen Showrooms kann der potenzielle Kunde "reale Stoffe fühlen und Farben sehen", aber großräumige Verkaufsniederlassungen gehören dort der Vergangenheit an. Zwar war BMW bei der Elektro-Flotte schon mit dem Neuwagenverkauf im Internet vorgeprescht, musste dann aber wohl aufgrund der Händlerproteste wieder zurückrudern. Auch Gewerkschafts- und Betriebsratsandrohungen bremsen wohl eher die digitale Neuausrichtung mit ihren zu befürchtenden tiefen Einschnitten in das bestehende Mitarbeitergefüge. Dennoch ist BMW in Deutschland bei dem Thema Online-Verkauf für Neuwagen nicht schlechter aufgestellt als die anderen Autohersteller. Allerdings auch nicht besser. Mercedes Benz ist bisher der einzige deutsche Anbieter, der den Neuwagenverkauf zumindest für ein paar C-Klasse-Modelle ermöglicht, aber nicht rabattiert.
Unterzieht man den "inaktiv gestellten" BMW-Online-Shop ohne Berücksichtigung der Verkaufsfunktion einem Vergleichstest mit anderen Online-Shops, dann hinkt dieser den heute gängigen Standards im Online-Handel um Jahre hinterher: Bis auf eine relativ gute Produktdarstellung sind sämtliche Usability-Faktoren wie u.a. Produktzugänge, Beratungsfunktionen, Kundeneinbindung sowie Multi-Channel-Services weit unterdurchschnittlich ausgeprägt. Tesla ist hier deutlich besser drauf und ermöglich bereits die komplette Kauf-, Bestell- sowie Zahlungsabwicklung. Vor allem aber trennen BMW vom wohl besten Hersteller-Shop der Welt, nämlich dem Apple-Store, Welten.
Und das, obwohl der dafür erforderliche Investitionsbedarf eher im unternehmensinternen Investitionsvergleich "Peanuts" darstellen dürfte. Auch stellt sich die Frage, warum BMW bisher weder ein Internet-Portal a là Meinauto.de aufbaut noch sich an einem derartigen Portal beteiligt hat und damit digital "mit Vollgas" durchstartet.
Hoheit über die Kundenschnittstelle
Nun zur zweiten Frage, die sich in Hinblick auf die "Mittel gegen das Sendungsbewusstsein des Silicon Valley“ auch deswegen stellt, weil die europäischen Unternehmen angeblich (noch) die Hoheit über die Kundenschnittstelle innehätten. Hier ist jedoch festzustellen, dass dies in einigen Branchen schon nicht mehr der Fall ist: Die Veränderung der Wertschöpfungskette in der Reisebranche ist praktisch schon vollzogen. Nur die Konsequenzen daraus sind erst mit Zeitverzug richtig erkennbar. Buchungen werden in der Regel bereits überwiegend auf Reise-Internet-Portalen getätigt. Booking.com und Expedia.com erreichen mit jeweils über 50 Milliarden US-Dollar Handelsvolumen Größenordnungen, an die selbst die Top-Reiseveranstalter der Welt nicht herankommen.
Dabei werden schon heute die höchsten Gewinnmargen der Wertschöpfungsstufe "Vertrieb“ durch die Portale erreicht, alleine über zwei Milliarden US-Dollar Nettogewinn bei Booking.com. Klassische Anbieter wie Thomas Cook verlieren zusehends ihre Position als "alles aus einer Hand Anbieter“ und degenerieren zum austauschbaren Logistikdienstleister, und zwar mit allen wesentlichen finanziellen Risiken durch das Asset-Intensive Geschäft. Bezeichnend ist dabei, dass die klassischen Anbieter den großen Reiseportalen praktisch kampflos das Geschäft und den direkten Kundenkontakt überlassen haben. Genauso, wie sich dieses jetzt auch schon im Einzelhandel mit Amazon und Co abzeichnet. Digital Insider gehen davon aus, dass mittel- bis langfristig keine Branche von dem disruptiven, digitalen Wandel verschont bleibt. Jedes attraktive Marktsegment wird von Investoren so lange befeuert, bis sich ein digitaler Player durchsetzt. Eine Markt-Disruption ist insofern für jede Branche unvermeidbar.
Die Branchen Medien und Musik
Neben der Reisebranche und dem Einzelhandel sind praktisch schon die Branchen Medien und Musik komplett verändert worden. Dieser Veränderungsprozess wurde sicherlich durch die Digitalisierung der Produkte, also den E-Books und Musik-Downloads, zusätzlich befeuert. Selbst dem Bankensektor steht mit Paypal und Co ein ähnlicher Paradigmenwechsel bevor, ebenso wie der Logistikbranche mit Tiramizoo und Shutl.com. Selbst die in Hinblick auf Vertriebsstrukturen eher konservative Autobranche sieht sich ja bereits mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert, da mit Tesla und Co jetzt auch Neuwagen ohne Niederlassungen verkauft. Der komplette Gebrauchtwagenmarkt findet ja auch schon mehr oder weniger online statt. Insofern besteht für in allen Branchen für etablierte Anbieter die Gefahr, wie die Reiseanbieter mit ihrem in der Vergangenheit aufgebauten Fixkostenapparaten eher zu einer Art Erfüllungsgehilfe ohne direkte Kundenbeziehung in der Geschäftsanbahnung zu werden.
Schlussfolgerungen für die europäischen Anbieter
Welche Schlussfolgerungen sind aber für die europäischen Anbieter zu ziehen? Offensichtlich hat die Mehrzahl der betroffenen Unternehmen - bis auf viele britischen Anbieter im Retail - noch nicht realisiert, mit welcher Wucht die digitale Revolution zuschlägt. Es besteht nicht nur Zeitdruck. Eher ist Alarmstimmung angesagt. Insofern ist der Vorstoß von Herrn Quant uneingeschränkt zu begrüßen, müsste jedoch vor allem auch beherzte Taten im eigenen Unternehmen folgen lassen. Und auch im "Sendungsbewusstsein des Silicon Valley" dürfte nicht die einzige Kernwurzel für den Gegenschlag liegen, sondern auch in den Forschungseinrichtungen dort und deren unerschöpfliche Ressourcen. Hier müssten die europäischen Unternehmen ansetzen.
Gründung neuer oder Umwidmung bestehender Stiftungen könnten eine "Digital European University“ schaffen mit vergleichbaren Ressourcen wie an der Stanford University mit rund 18 Milliarden US-Dollar - nicht einmal einem Viertel des BMW-Börsenwertes. Alles andere wird nicht fruchten. Auch wenn die ersten Unternehmenschefs zur Online-Offensive blasen, tun sie dies – gemessen an den digitalen Systeminvestitionen - immer noch überwiegend halbherzig bis gar nicht. Um eines werden sie allerdings nicht umhin kommen - und auch Herr Quant nicht: Digitale Mobilisierung. Echte Mobilisierung. Und "das kostet ´n Arsch voll Kohle, aber lohnt sich" wie das Handelsblatt letztes Jahr bemerkte.