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Philipp Depiereux

Philipp Depiereux von Etventure "Digitale Einheiten müssen geschützt werden"

Philipp Depiereux, einer von drei Gründern der Digital-Beratung Etventure

Etventure

Philipp Depiereux, einer von drei Gründern der Digital-Beratung Etventure

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Schneller, effizienter, agiler werden: Das möchten die Unternehmen in Deutschland werden. Doch die digitale Transformation stockt. Es mangelt an Netz-Infrastruktur, an Kapital und an Unternehmergeist.

Sie reisen ins Silicon Valley, sie fördern oder kaufen Start-ups: Und trotzdem kommt die digitale Transformation in deutschen Unternehmen nicht so recht voran. Nach der Einrichtung erster Shops für B2C- oder B2B-Geschäfte bremst der notwendige Wandel schnell wieder ab. Das sei eine Folge von schlechten Mobilfunknetzen und fehlender Infrastruktur, vor allem aber von Führungsschwächen und Silodenken, meint Philipp Depiereux, Mitgründer und einer der Geschäftsführer der Digitalberatung Etventure: "Meistens ist ein großer Teil der Beschäftigten an Veränderungen interessiert", sagt er im Interview mit uns.

Die Digital-Beratung gründet im Auftrag ihrer Kunden zunächst abgeschlossene, externe Digitaleinheiten und versucht erst dann mit ersten Ergebnissen Denken und Kultur der Organisationen Schritt für Schritt zu verändern.

Eine Strategie, die zunehmend auch die klassischen Beratungen für sich entdecken: Accenture, Price Waterhouse Cooper, McKinsey oder Roland Berger kauften in den letzten Monaten Digital-Agenturen zu und positionieren sich als Konkurrenz zu Beratungen wie Etventure. Philipp Depiereux über die neuen Wettbewerber und über die Methoden, wie die digitale Transformation gelingen kann und wie Start-ups schneller wachsen.

Konzerne wie Daimler, Metro, die Allianz arbeiten schon seit einiger Zeit mit Start-ups zusammen, bekennen aber erst jetzt Farbe. Wie erklären Sie sich das?
Philipp Depiereux: Der klassische Mittelstand öffnet sich erst langsam, vor allem die produzierende Industrie will die Start-up-Welt im Bereich Internet of Things und Machine-to-Machine-Kommunikation kennenlernen. Die Konzerne outen sich jetzt, weil sie merken, dass sie für die Transformation ihres Kerngeschäftes neue Impulse brauchen. Und sie geben sich cool, um die Talente der Zukunft anzuziehen, die notwendig sind für den Wandel. Die Strukturen in den Konzernen sind lange gewachsen. Man kennt das, da gibt es Regeln zu Politics und Compliance, viel Sicherheitsdenken, und das muss überwunden werden. Die Vorstände, auf die Etventure stößt, haben verstanden, dass sie eine neue Kultur brauchen. Im Austausch mit Start-ups können außerdem erste Freiräume für Digital Units entstehen und Möglichkeiten, Menschen zusammenzubringen, um die Transformation anzustoßen. Trotzdem gilt: Der klassische Führungstyp wird seine Konzerndenke und eingeübte Kontrollreflexe nicht einfach los, indem er mit Start-ups zusammenarbeitet oder sie kauft.

Bringen die Start-up-Programme der Konzerne etwas?
Depiereux: Wenn Start-ups und Unternehmen zusammenarbeiten, prallen Welten aufeinander. Wenn wir in einem Unternehmen eine Digitaleinheit gründen, ziehen wir deshalb bewusst erst einmal panzer- und schusssichere Wände zur Organisation ein. In dieser externen Einheit arbeiten wir mit neuen Verfahren und Verhaltensweisen, auf die die Kernorganisation mitunter skeptisch reagiert. Diese ersten Einheiten funktionieren anders und müssen daher geschützt werden. Mit Ideen dieser Einheit, die bereits mit ersten Kunden getestet wurden, können wir Türen öffnen. Damit wecken wir Interesse für neue Prozesse und Ideen und können auf Basis konkreter Daten von den Vorteilen der Veränderung überzeugen. Problem ist doch: In Deutschland brummt die Wirtschaft, die Unternehmen sind hochprofitabel und sehen den Veränderungsdruck nicht. Läuft doch alles wie geschmiert. Das wäre im Übrigen bei uns nicht anders: Sechs Jahre nach dem Start ist auch Etventure in gewisser Weise zu einer Bewahrer-Organisation geworden. Wir sind erfolgreich. Käme hier jemand rein und meinte, wir sollten Strukturen oder Beratung verändern, dann würden sich hier erst einmal 220 Leute an den Kopf fassen.

Müssen Sie in den Unternehmen, die Sie beraten, die Häuptlinge überzeugen oder die Indianer?
Depiereux: Mich interessiert anfangs nur der oder die Vorstandsvorsitzende(n). Die digitale Transformation erfordert Entscheidungen, die nur Vorstand oder Geschäftsführung treffen können. Selbst wenn Mittelmanagement und Angestellte aufgeschlossen sind für Veränderungen, digitale Prozesse und Ideen, braucht es die Rückendeckung von ganz oben. Meistens ist ein großer Teil der Beschäftigten an Veränderungen interessiert.

Die Gruender von Etventure Philipp Depiereux, Christian Luedtke und Philipp Herrmann

Gründer- und Führungsteam von Etventure: Philipp Depiereux, Christian Lüdtke und Philipp Herrmann

Etventure

Sind Sie mit dem Digitalisierungsgrad in der deutschen Wirtschaft zufrieden?
Depiereux:
Wir haben in Deutschland essenzielle Probleme. Die Infrastruktur ist ein Desaster, einige unserer Kunden auf der Schwäbischen Alb haben beispielsweise kein schnelles Mobilfunknetz. Da wird immer wieder über Machine-to-Machine-Kommunikation und Datennetze gesprochen und dann fährst Du 100 Kilometer und dabei bricht mindestens fünfmal das Netz zusammen. Weitere Herausforderung ist sicher die Finanzierung. Auch wenn momentan viel Geld im Markt ist und klassische Kapitalanlagen nicht funktionieren, sind uns die US-Amerikaner in Sachen Risikokapital weit voraus. Allerdings: Selbst Familienunternehmen, die in der vierten, fünften, sechsten Generation bestehen und erfahrungsgemäß eher konservativ agieren, verstehen, dass sie jetzt digitale Kanäle zu ihren Kunden und Auftraggebern eröffnen müssen. Nur wissen die Unternehmer nicht, was sie konkret machen und wo sie anfangen sollen. Strategieberatungen verkaufen ihnen Digitalstrategien und wollen diese innerhalb von drei Jahren aufsetzen. Digitalagenturen wiederum raten zum Start in den E-Commerce oder empfehlen Online-Marketing zur digitalen Transformation. Beides kann nicht funktionieren, ersteres mündet in Systemen, die schon kurz nach der Einführung veraltet sind und letzteres reicht nicht aus, um ein Unternehmen zu transformieren.

Wie geht’s besser?
Depiereux: Unternehmer sollten darauf achten, wo in ihren Branchen digitale Kanäle bestehen oder wo sie diese für Kunden oder Geschäftspartner öffnen können und dafür Projekte planen. Die B2B-Welt sieht heute so aus: Einkäufer oder Verkäufer, die privat ein Smartphone haben, selbst schon lange online bestellen, vielleicht auf Facebook und Whatsapp netzwerken, legen ihre digitalen Kenntnisse ab, sobald sie ins Unternehmen kommen. Für die ist es Irrsinn, Anlagen oder Werkzeugteile online zu ordern oder anzubieten, allein schon im Hinblick auf Freigabeprozesse und den Schutz eigener Produktionsdaten. Die gehen noch auf Messen, treffen dort ihre Außendienstler oder setzen auf Kataloge und Fax. Für Online-Unternehmen und für Start-ups ist es daher die größte Herausforderung, einen funktionierenden Digitalkanal zu etablieren und digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, die tatsächlich ein Kernproblem des Kunden lösen. Klassische Berater fragen zurzeit gerne 'Are you digital ready?' und machen dazu Analysen. Aber die Antwort lautet immer ,Nein‘.

Warum?
Depiereux: Konzerne können nicht digital ready sein. SAP kann nicht mal eben auf einen Angreifer mit agiler Entwicklung reagieren. Wir haben Versicherungskunden, die schon ziemlich digital in ihren Prozessen sind. Aber einige von ihnen haben bis zu 23 unterschiedliche ERP-Systeme, von denen die ältesten älter als 15 Jahre sind. Die kommunizieren alle nicht miteinander, das sind alles isolierte Datensilos. Würde ich diese Systeme ,digital ready‘ machen, würde ich fünf Jahren brauchen, vermutlich Millionen Euro investieren müssen, aber in einem Jahr ist alles schon wieder veraltet, weil es nicht an den Bedarf anzupassen ist. Natürlich müssen Systeme aktualisiert werden. Das ist aber nicht der Kern der Digitalisierung. Unternehmen müssen, auch wenn sie nicht „digital ready“ sind, jetzt mit der Digitalisierung beginnen und dürfen nicht warten, bis sie selbst meinen, „ready“ zu sein. Bis Unternehmen mit ihrem Komplexitätsdenken und ihren alten Systemen auf Angreifer reagieren können, haben sie längst Geschäft verloren.

Gibt es Branchen, die die Notwendigkeit der digitalen Transformation noch nicht verstanden haben?
Depiereux: Im Bereich Fast Moving Consumer Goods passiert vergleichsweise wenig. Die Hersteller von Nahrungsmitteln, Kosmetik oder Reinigungsprodukten sind satt, denen geht es ausgezeichnet. Noch. Für sie ist Digitalisierung bisher nur ein Marketingthema, viele verfügen schon über digitale Konsumentenkanäle, nutzen Facebook und andere Communities, schieben Millionenetats in ihre Online-Werbung, denken aber nicht an neue Geschäftsmodelle.

Inspiration, Wachstumschancen und Technikwissen von Start-ups

Wie können Unternehmen mit Start-ups zusammenarbeiten, wenn siedie digitale Transformation vorantreiben wollen?
Depiereux: Das kommt auf die Ziele an. Wenn Unternehmen Technologien und neue Prozesse kennenlernen wollen, können sie ein Gründerprogramm aufsetzen und Fördergelder ausschreiben. Geht es darum, von Start-ups und ihrem Wachstum zu profitieren, eignen sich Venture-Programme. Einige Unternehmen kooperieren auch mit Start-ups, um das Kerngeschäft zu verändern oder neue Services zu entwickeln, aber das hat nach meiner Beobachtung noch nirgends richtig geklappt. Das Verhältnis von Konzernen und Start-ups ähnelt, überspitzt ausgedrückt, dem von Nord- und Südkorea. Beide verfolgen unterschiedliche Ziele, setzen auf unterschiedliche Prozesse, Denkweisen, Kulturen. Für die Transformation der eigenen Organisation und um neue Geschäftsmodelle zu finden, müssen sich Unternehmen mit sich selbst beschäftigen und eigene Methoden entwickeln: Das funktioniert nach unseren Erfahrungen am besten in geschützten, abgegrenzten Experimentierfeldern und mit überschaubaren Projekten und ersten Services.

Zurzeit geht eine Übernahmewelle durch die Beratungslandschaft. Accenture, PriceWaterhouseCoopers oder Boston Consulting haben sich mit Digitalagenturen verstärkt. Bringt das die Qualität der Beratungen voran?
Depiereux: Aus der Sicht der Beratungen ist das sicher eine schlaue Strategie. Sie kaufen sich damit das digitale Denken und die Vernetzung ein, mit der wir jetzt seit sechs Jahren arbeiten. Für alle Beteiligten ist es gut, wenn es neue Beratungen gibt.

Wächst da nicht auch für Sie starke Konkurrenz?
Depiereux: Logisch. Es ist schon so, dass wir den Konkurrenten jetzt bei Pitches begegnen, die unser validiertes Geschäftsmodell kopieren. Aber mit mehr als 100.000 Unternehmen in Deutschland beackern wir ein Riesenfeld. Da bleibt viel Platz für Konkurrenz, und wir bringen viel Entrepreneur-Erfahrung mit, können auf erfolgreiche Projekte verweisen und haben schon Projekte scheitern sehen. Wir wissen, was wir tun.

Die Vertreter deutscher Unternehmen und Aktiengesellschaften reisen gern, zurzeit bevorzugt ins Silicon Valley. Macht das schlau in Sachen digitale Transformation?
Depiereux: Mein größter Fehler war, dass ich vor sechs Jahren Etventure mitgründet habe und kein Reisebüro für CEO und ihre USA-Trips. Fast jeder Kunde von uns war schon im Silicon Valley - allein, mit drei, mit zehn oder mehr Leuten. Aber ich will das nicht durch die Bank schlechtmachen, viele Unternehmer werden dadurch zum ersten Mal mit Methoden wie Design Thinking, Lean Startup, agiles Entwickeln und vor allem mit neuen Geschäftsmodellen konfrontiert. Das schafft ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Innovation und Veränderung. Leider fahren die wenigsten zurück und setzen die Einsichten um. Gisbert Rühl, der Vorstandsvorsitzende von Klöckner, hat das anders gemacht und spricht heute in Vorträgen und Medien über seine Reise sowie die erfolgreich gestartete Transformation eines klassischen Stahlherstellers. Klöckner hat vor zwei Jahren noch keinen Digitalkanal zu seinen Kunden gehabt. Inzwischen realisiert das Unternehmen einen hohen dreistelligen Millionenbetrag über Digitalkanäle.

Sie haben es schon mehrfach betont: Digitalisierung braucht neue Mitarbeiter, heißt das, dass viele Mitarbeiter auf der Strecke ausgetauscht werden müssen?
Depiereux: Ich komme nochmal auf die Versicherungen zurück. Hier sitzen Angestellte, die aktuell Schäden manuell auswerten und zig Seiten an Schadensberichten und Dokumentationen schreiben. Das lässt sich alles digital und automatisiert erledigen. Es gibt ja heute schon Apps, mit denen man einen Schaden fotografiert und elektronisch meldet, Annahme oder Ablehnung übernimmt danach ein Algorithmus, der entscheidet, ob ein Sachverständiger eingeschaltet werden muss. Diese Arbeiten werden in Zukunft wohl Maschinen machen. Dennoch bleibt der Faktor Mensch trotz der Digitalisierung nach wie vor zentral. Doch es gehört zu den größten Herausforderungen der Wirtschaft, die Menschen in dieser Entwicklung mitzunehmen, entsprechend auszubilden und zu schulen. Dieser Verantwortung müssen sich Unternehmen bewusst sein.

Gibt’s denn die benötigten Digitalexperten schon in ausreichender Menge?
Depiereux: Wir sind bei Etventure im letzten Jahr von 100 auf 220 Digitalexperten gewachsen. Die Mitarbeiter, die wir brauchen, benötigen auch andere Unternehmen. Wir suchen Leute, die Start-up-Erfahrung haben, idealerweise auch mal gescheitert sind. Sie sollten aber auch Mittelstands- und Konzernerfahrung mitbringen und die Strukturen kennen, die sie verändern werden, außerdem Empathie zeigen und die Leute in den Unternehmen auch verstehen können. Als drittes brauchen sie Beraterkompetenz und sollten schnell analysieren und Modelle konzeptionieren können. Gibt es diese Menschen? Natürlich nicht. Rekrutieren wir Hochschulabgänger und andere Mitarbeiter, bringen die im Idealfall Erfahrungen aus zwei der genannten Bereiche mit, wir müssen also immer schulen. Das gilt auch für die Mitarbeiter in den Unternehmen, für die wir arbeiten. Daher haben wir diverse Tools und Module entwickelt, die unsere Kandidaten durchlaufen. Die Mitarbeiter unserer Auftraggeber schulen wir unter anderem in der Berlin School of Digital Business, einem unserer Tochterunternehmen. Außerdem sind wir vor sechs Monaten ein Joint Venture mit der Personalberatung Kienbaum eingegangen und haben die Unternehmer-Schmiede gegründet. Hier kombinieren wir Recruiting und strukturierten Profilaufbau. Wir vermitteln Entrepreneurship und Innovationsmethoden- und Fähigkeiten und entwickeln so Digitalexperten, indem wir sie in ihrem beruflichen Alltag, im Rahmen konkreter Digitalprojekte, begleiten. Das ist kein Frontalunterricht, sondern echtes Praxistraining.

Etventure Buero in Muenchen

Besprechungsraum im neuen Münchner Büro: Etventure arbeitet für Mittelständische Firmen und Konzerne wie Haniel, Klöckner oder Wüstenrot. Die Beratung gründet meist externe Einheiten, die für ausgewählte Leistungen digitale Lösungen entwickelt und aufbaut.

Unternehmen


Wie häufig vertrauen Sie bei Ihren Innovationsprojekten auf externe Gründerpersönlichkeiten, wie oft kommen sie aus dem Kundenunternehmen?
Depiereux: Zu 75 bis 80 Prozent bringen wir neue Leute rein, so 20 bis 25 Prozent finden wir in der Kernorganisation. Das aber gilt nur für die Startphase. Interessieren sich Mitarbeiter für die ersten Ergebnisse und erkennen Möglichkeiten oder wollen wechseln, ändert sich das Verhältnis schnell. Im Gegensatz zu neuen Mitarbeitern kennen Angestellte das Unternehmen, bringen Kontakte tief in die Organisation und Fachkenntnisse mit. Das ist extrem wichtig für den Austausch und damit neue Methoden und neues Denken auch zurück in die Kernorganisation transferiert werden. Das beschleunigt die Veränderungen.

Sie beraten aber auch Gründer und entwickeln Business-Ideen weiter: Wie wählen sie Konzepte und Kandidaten aus?
Depiereux: In der Regel erhalten wir neue Konzepte und Ideen aus dem mittleren Management etablierter Unternehmen. Wir analysieren die Konzepte, testen sie in zwei, drei Tagen auf Marktfähigkeit. Sehen wir Chancen, gründen wir eine Gesellschaft aus, besorgen uns dafür Risikokapital - selbst investieren wir nicht. Danach suchen wir den besten Entrepreneur, nach unserer Beobachtung ist das in den seltensten Fällen der Ideengeber. Ideengeber stecken zu tief in der Materie, sind selten gute Verkäufer, die Mitarbeiter, Kunden oder Investoren begeistern können. Daher schreiben wir bei Bedarf Geschäftsführungspositionen aus oder treffen Gründer bei Veranstaltungen. Sie kriegen Anteile und ein Gehalt wie in Acceleratoren und Inkubatoren auch.

Wie häufig bekommen Sie Ideen?
Depiereux: Ohne ein Programm dafür aufgesetzt zu haben kommen pro Woche zwei bis drei Ideenskizzen rein. Pro Jahr realisieren wir vier bis fünf Konzepte.

Welche Ideen bevorzugen Sie?
Depiereux: Wir machen keine Waffen-, Sex- und anderen schlimmen Geschäfte, als Waldorf- und Antroposophie-Anhänger unterstütze ich persönlich inzwischen auch keine Digitalmodelle für Kinder mehr. Wir nehmen nur Ideen auf, die wir schnell auf Marktchancen testen können. Dafür bauen wir innerhalb von vier, fünf Wochen einen ersten Prototypen, stellen diesen zehn bis 20 potenziellen Kunden zur Verfügung, sammeln Daten und entscheiden auf dieser Basis, ob wir die Idee umsetzen.

Sie sind auch in den USA aktiv, haben gerade in New York ein Büro eröffnet: Sind deutsche Gründer unkreativer als US-amerikanische?
Depiereux: Nein, bestimmt nicht. Wenn ich mir anschaue, was in Berlin und in anderen Gründerstädten Deutschlands passiert, dann haben wir viel zu bieten. Gerade Berlin profitiert von der wachsenden Internationalität. Bei Infarm, einem Start-up, das wir begleitet haben, ist die Umgangssprache Englisch, bis zu 80 Prozent der Mitarbeiter kommen aus Israel, USA, Frankreich, Italien und anderen Ländern. Das ist schon toll. Auch unter Hochschulabsolventen ist Gründen heute ein Thema, das Risikoverhalten ist ein anderes als in unserer Elterngeneration. Heute wollen Einsteiger frei arbeiten, Geld ist gar nicht so wichtig, sondern das Ausprobieren, intrinsische Motivation, flexibles Arbeiten. Ja, wir haben eine gute Gründerszene. Aber die unterscheidet sich von der in den USA: Amerikaner riskieren mehr und treten deutlich selbstbewusster auf. Deutsche Gründer muss man mindestens zehn Mal durch einen Pitch jagen, bis die sich trauen, ihre Ideen als die besten darzustellen.

Jüngeren Statistiken zufolge schaffen Berliner Start-ups nicht mehr so viele Jobs wie früher. Ist der Hype vorbei?
Depiereux: Kann ich nicht bestätigen. Aber an allen unseren Standorten, in Berlin, München, Stuttgart und Hamburg läuft die Suche nach Digital-Talenten auf Hochtouren. Und dieser "War for Talents" verstärkt sich, weil jetzt auch die Konzerne und Mittelständler mit Gründern um Talente konkurrieren. Deren Zahl ist begrenzt. Gute Leute zu kriegen für digitale Geschäfte, ist die größte Herausforderung, nicht nur für Start-ups. Nicht nur in Berlin, auch in München, Hamburg, Köln oder Düsseldorf und in Städten wie Stuttgart, die man vor ein paar Jahren nicht sofort mit Digital verbunden hat.

Zu den Problemen der Digitalisierung gehören Ihrer Meinung nach die Investoren. Brauchen wir neue, andere Finanziers?
Depiereux: Auch das ist eine Frage der Einstellung. In Deutschland wird einfach nicht so risikofreudig investiert wie in den USA. Dort werden Wachstumsunternehmen im dreistelligen Millionenbereich finanziert, die bei uns lediglich drei Millionen Euro finden. Es fehlen staatliche Förderungen für Investoren, also Abschreibungsmöglichkeiten oder Steuervorteile. Aber es ist auch in Deutschland möglich, für eine gute Idee Geld zu bekommen - gerade wenn man schon Start-up-Erfahrung mitbringt.

Fehlt hier eher das Geld oder der Wagemut? Klassischerweise kommt Venture Capital von Unternehmen, und die deutschen Unternehmen gelten als gut kapitalisiert.
Depiereux: Ich denke, es liegt an der Mentalität. In den USA gehen Unternehmen auch anlagetechnisch ins Risiko, hierzulande setzen Unternehmen sicherheitshalber auf Immobilien.

Welche Trends in der Digitalbranche kommen in den Unternehmen jetzt gut an?
Depiereux: Neue Digitalkanäle zu finden und zu monetarisieren. Daneben wächst das Interesse an Smart Data, Internet of Things und Machine-to-Machine-Kommunikation sowie Blockchain. Welche Technologie für welches Unternehmen wirtschaftlich tatsächlich Sinn macht, ist individuell verschieden. Denn der größte Trend ist zugleich die Basis aller der genannten Technologien, nämlich der Fokus auf den Kunden durch Design Thinking: Zentral ist es, nur das zu machen, was für den Kunden einen tatsächlichen Nutzen stiftet.

Was hat die besten Chancen sich durchzusetzen?
Depiereux: Wenn ich unsere Kunden so anschaue, dann die Forderung, dass sie jetzt anfangen müssen, zu digitalisieren. Denn sie setzen ja nicht einfach auf einen Trend wie Big Data, Always-on oder Internet of Things. Sondern sie sehen, dass es neue, digitale Angreifer in ihrer Branche gibt beziehungsweise geben kann. Durchsetzen wird sich nicht unbedingt eine bestimmte Technologie oder ein Trend, sondern eine Denkweise: Firmen, die verinnerlichen, dass der Kunde im Zentrum jeder Produktentwicklung stehen muss, die für die Digitalisierung auf neue Methoden wie Design Thinking und Lean Startup setzen und digitale Geschäftsmodelle prototypisch im geschützten Raum entwickeln und testen.

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