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Bodmeier-Ruppert

Interview "New Normal" Ruppert Bodmeier: "Firmen, die nur ihr Wachstum im Blick haben, braucht niemand"

Ruppert Bodmeier, Disrooptive

Disrooptive

Ruppert Bodmeier, Disrooptive

Disrooptive

Das Jahr 2021 ist vor allem eins: unplanbar. Doch wer als Strategie nur ausgab, um x Prozent zu wachsen, hat ohnehin keine Daseinsberechtigung mehr, sagt Disrooptive-Gründer Ruppert Bodmeier. Es gehe vielmehr darum, einen klaren Kompass für die kommenden Jahre zu haben.

In welcher Ausgangslage starten Unternehmen aus deiner Sicht in das Jahr 2021?

Ruppert Bodmeier:
Grundsätzlich ist es so, dass alle oberflächlichen Strategien durch die Pandemie pulverisiert wurden. Unternehmen, deren einziges Ziel es bislang war, um x Prozent zu wachsen oder einen bestimmten Umsatz zu erreichen, haben in einem Jahr, in dem man nicht weiß, ob man überhaupt wachsen kann, ein echtes Problem. Im Vorteil sind die Unternehmen, die einen klaren Kompass haben, die eine Idee davon haben, wie sie in zwei, drei oder vier Jahren aussehen wollen, und die unabhängig von den KPIs eine Vision verfolgen. Die werden kein Problem haben, denn die Richtung bleibt ja die gleiche. Sie müssen sich nur einfach in der Machbarkeit an den Entwicklungen des Jahres 2021 orientieren und schauen, was schon in diesem Jahr umgesetzt und was vielleicht verschoben werden kann. Ich persönlich habe auch überhaupt kein Mitleid mit Unternehmen, die nur ihr Wachstum im Blick haben. Denn solche Unternehmen braucht niemand, weil sie nicht USP-orientiert, sondern größenorientiert und damit austauschbar sind. Und in Krisenjahren ist nicht Größe von Vorteil, sondern Anpassungsfähigkeit. Also wie plane ich ein unplanbares Jahr? Indem ich die ganze Organisation prozessseitig, organisatorisch und zielseitig anpassungsfähiger ausrichte. Dann kann ich von Monat zu Monat neu justieren. Aber da hapert es leider bei vielen.

Ein Dickschiff wird eben nicht eben in neun Monaten agil. Was wären denn die berühmten ersten Schritte?

Bodmeier:
In klassischen Hierarchien ist das größte Problem, dass das Management das Bottleneck ist. Was man also sofort machen kann, ist zu delegieren und Entscheidungen an die nächsten Stufen weiterzugeben. Dann muss man aber auch damit leben können, wenn nicht hundertprozentig so entschieden wird, wie man es selbst getan hätte. Entscheider müssen sich eher zum Sparrings-Partner weiterentwickeln. Das könnte man adhoc umsetzen, ist aber eine Mentalitätsfrage. Ich kenne leider viele Unternehmen, in denen sich die oberste Hierarchiestufe auch für die Schlauesten der Schlauen und alle anderen für Idioten hält. Aber die werden früher oder später riesige Probleme bekommen.

Das erste "Aber", das nach solchen Vorschlägen in der Regel kommt, ist die Kontrolle. Wie stellt man sicher, dass sich das Unternehmen in die richtige Richtung bewegt, wenn man selbst die Zügel ein Stück weit aus der Hand gibt?

Bodmeier:
Einfach indem man mehr mit den Leuten spricht. Was habt ihr entschieden? Warum habt ihr so entschieden? Habt ihr an folgende Faktoren gedacht? Im Grunde muss sich das Management mehr Zeit für die Leute nehmen und weniger Zeit, um Excel-Files zu kontrollieren oder den Leuten auf die Finger zu schauen. Wenn es jemandem wichtig ist, KPIs zu kontrollieren, soll er jemanden einstellen, der diesen Job übernimmt. Es selber zu machen, ist totaler Quatsch.

"A fool with a tool is still a fool"

Wir haben ja nun ein Jahr hinter uns, wo jeder mal mehr mal weniger blind in Digitalisierungsaktionismus verfallen ist. Was sind deine Learnings daraus?

Bodmeier:
Aus meiner Sicht muss man an drei Stellen arbeiten: der Kommunikation, der Vorgehensweise und den Tools. Als erstes muss man in die Organisation kommunizieren, was man eigentlich erreichen will. Und das Woche für Woche für Woche, bis man es selber schon nicht mehr hören kann. Aber nur so kommt es in der Organisation an. Als nächstes muss man an den Prozessen arbeiten und sich fragen, welche Entscheidungsfähigkeit, Prozesse und Arbeitsvorlagen man den Mitarbeitern an die Hand gibt, damit sie in der Lage sind, große Probleme und Herausforderungen in radikal kurzer Zeit zu lösen. Und das dritte sind Tools, die es den Mitarbeitern ermöglichen, ihre Aufgaben operativ auszuführen, selbst wenn sie in der Woche nur eine halbe Stunde Zeit dafür haben. Was im vergangenen Jahr aber passiert ist, ist, dass die Unternehmen vor allem Tools eingeführt haben. Als die Mitarbeiter von jetzt auf gleich ins Homeoffice verpflanzt wurden, wurden hektisch Cloud-Arbeitsprogramme wie Teams eingerichtet. Und das hat auch ganz gut funktioniert. Aber wie heißt es so schön: “A fool with a tool is still a fool.” Wir sind toolbasiert ins Jahr 2021 gestolpert. Jetzt muss bei den anderen beiden Themen nachgearbeitet werden. Unternehmen, die das hinbekommen, werden die Krise im Rückblick als eine unglaubliche Chance verstehen, weil sie sich organisatorisch auf einem ganz neuen Niveau aufgestellt haben. Und die, die nur an der Tool-Seite gearbeitet haben, werden sich spätestens in fünf Jahren wundern, warum sie von der Digitalisierung nicht profitieren. Man sah doch im vergangenen Jahr anhand der Quartalszahlen sehr gut, dass Unternehmen, die entscheidungsschnell aufgestellt waren, besser durch die Krise kamen als andere. Ein Zooplus ist trotz Corona nicht richtig gewachsen. Ein Zalando oder About You schon. Und man kann sich ja schon die Frage stellen, warum About You, selbst auch ein Milliardenkonzern, in der Lage war, in drei bis vier Wochen einen Maskenshop aufzubauen und damit Aufmerksamkeit und PR abzugreifen, und andere mit exakt den gleichen Voraussetzungen wie Esprit oder s.Oliver nicht. Klar haben die mit anderen Problemen wie zum Beispiel den Ladenschließungen gekämpft. Aber selbst dann muss man doch noch immer fünf oder zehn Prozent der Belegschaft anhalten, weiter am Morgen zu arbeiten. Bei uns gab es auch Unternehmen, die Projekte in der Krise erst einmal gestoppt haben. Andere haben sie trotz Corona durchgezogen. Vielleicht hatten die, die es durchgezogen haben, in den drei Monaten mehr Struggle. Aber sie sind aus dem Startblock dann halt auch mit 50 Meter Vorsprung durchgestartet. Das war ein geschenkter Vorsprung. Aber diese Unternehmen waren deutlich in der Minderheit. Ein altes Sprichwort aus China besagt: “Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen”. Ich glaube, an der Metapher kann man es aufziehen. 

Was würdest du Karstadt oder Esprit für das kommende Jahr raten?

Bodmeier:
Ich höre von diesen Unternehmen seit vielen Jahren immer wieder das gleiche, nämlich dass die Verfügbarkeit, die Beratung und die Möglichkeit zum Bummeln sie einzigartig machen. Defacto wird diesen Unternehmen aber seit zehn Jahren Marktanteil abgenommen. Die müssen einfach hart mit sich ins Gericht gehen und einen echten USP für sich finden. Wenn man nicht bereit ist, das zu tun und sich dafür dreckig zu machen, ist das Ende nur noch eine Frage der Zeit. Es gibt ja durchaus Beispiele, die eine Neuausrichtung hinbekommen und für sich eine Nische gefunden haben. Aber die Veränderungsbereitschaft, die bislang an den Tag gelegt wurde, reicht nicht.

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