
Interview mit Keynote-Speaker Trendforscher Nils Müller: "Händler agieren zu kurzfristig"
Nils Müller, Gründer des Trendforschungsbüros Trend One
Nils Müller, Gründer des Trendforschungsbüros Trend One
Trendforscher Nils Müller warnt den deutschen Handel davor, nur zu überlegen, wie man im nächsten Quartal mehr Abverkauf erzielt. Themen wie künstliche Intelligenz oder Wearables gehören dringend auf die Agenda.
Handel im Wandel - nie hat die Formulierung besser gepasst als heute. Während der klassische Handel noch immer zögerlich Richtung digitales Zeitalter stolpert, entwickelt sich die Technik schon längst wieder weiter. Die Omnichannel-Hausaufgaben sind noch nicht erledigt, da stehen neue strategische Entscheidungen in Sachen Artificial Intelligence oder Wearables ins Haus. Wir sprachen mit Nils Müller, Gründer des Hamburger Trendbüros Trend One, in welche Richtung sich der Handel als Nächstes wandeln wird.
Müller eröffnet zudem als Keynote-Speaker den Kongress der Internet World Messe am 1. März 2016.
Helmut Schmidt hat einmal gesagt: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen." Fühlen Sie sich denn noch gesund?
Nils Müller: Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hat. Ich glaube, er hat sich von diesem Zitat auch einmal distanziert. Aber unabhängig davon muss natürlich jedes Unternehmen ein Zukunftsbild oder eine Vision davon haben, wie es als Unternehmen in Zukunft Geld verdienen will und wie die eigene Produkt- und Servicewelt in Zukunft aussieht. Das ist als Orientierungsleitplanke total wichtig, auch für die Mitarbeiter, die dann wissen, in welche Richtung marschiert werden soll.
Welche Quellen nutzen Sie denn, um zu sehen, wie sich Märkte entwickeln?
Müller: Wir schauen uns natürlich weltweit um - nicht nur in Europa und den USA, sondern auch in Israel, Japan oder Korea. Die meisten Impulse für neue Geschäftsmodelle kommen nach wie vor aus den USA. In Sachen Hardware setzen oft Japan, Korea oder China neue Trends.
Was würden Sie kleinen und mittelständischen Unternehmen raten, die das Ohr am Puls der Zeit behalten wollen?
Müller: Wichtig ist, die kommenden drei Jahre zu antizipieren. Geschäftsmodelle wandeln sich heute schnell. Ein Player wie Airbnb räumt mal eben in fünf Jahren ein ganzes Marktsegment auf. Doch für große und etablierte Unternehmen sind fünf Jahre eine relativ kurze Zeit, um sich anzupassen. Entsprechend weit muss man in die Zukunft schauen. Dazu empfiehlt sich, viel im Austausch zu sein, Unternehmen live zu treffen, mit Innovatoren zu sprechen. In Berlin tummeln sich viele Start-ups. Kontakte, die man da kriegt, sind total wertvoll. Auch England ist uns voraus. Dort zahlt beispielsweise kaum mehr jemand mit Bargeld.
Tut das der Einzelhandel?
Müller: Ich finde schon, dass Händler sehr interessiert sind, viel auf Konferenzen gehen und viel miteinander sprechen. Der Bottleneck ist eher in der Ausführung. In den vergangenen fünf bis sieben Jahren ist in Sachen Technik und Geschäftsmodellen viel passiert. Das spiegelt sich aber im Handel und auf der Fläche nicht wider. Ein Baumarkt sieht einfach noch genauso aus wie vor sieben Jahren. Da gibt es keine Instore-Navigation, keine Roboter, die den Kunden durch die Gegend führen, keine Leitsysteme, keine intelligenten Beratungsansätze, keine Beacons. Die Umsetzung ist total mau.
Woran liegt das?
Müller: Der Handel agiert zu kurzfristig und zu zahlengetrieben. Händler schauen maximal ins nächste Quartal und überlegen, was sie dann mehr in Richtung Abverkauf machen können. Sie agieren zu operativ und nicht strategisch. Die Automotive-Branche dagegen hat eine klare Roadmap für die kommenden fünf bis zehn Jahre.
Was sehen Sie denn als Trends, die der Handel auf seiner noch nicht vorhandenen Roadmap berücksichtigen sollte.
Müller: Aktuell sprechen alle über Digitalisierung und Multichannel. Doch diese Hausaufgaben stehen eigentlich schon seit fünf Jahren auf der Liste. Diejenigen, die sie erledigt haben, wachsen mit Multichannel. Wer es nicht tat, verliert massiv. Die nächste Welle betrifft die künstliche Intelligenz. Das klingt immer so ein bisschen nach Science Fiction à la "Kommen jetzt die Roboter?" Schauen Sie sich Amazon Echo an: Plötzlich haben Kunden einen Sprachcomputer zu Hause, den Händler als Callcenter der Zukunft im Kundendialog einsetzen können. Dieser hat den ganzen Warenbestand auf dem Schirm und weiß sehr genau, welchen Kunden er gerade in der Leitung hat und was dieser wahrscheinlich als Nächstes tun wird. Es gibt bereits die ersten Banken, die in den Filialen Roboter für Verkaufsdialoge einsetzen.
Aber gehen Kunden nicht gerade deswegen in die Filiale, um dort einem echten Menschen zu begegnen?
Müller: Nein, die meisten wollen das nicht. Denn die Menschen, die sie da vermeintlich gut beraten, machen eigentlich nur Cross- und Upselling. Es gibt Studien, die belegen, dass sich Geld, das nach dem Zufallsprinzip irgendwo angelegt wird, ähnlich vermehrt wie Geld, das von einem Finanzberater angelegt wurde. Der Roboter als Metamaschine hat da einen viel intelligenteren Zugriff auf das gesamte Portfolio.
Ein weiterer großer Trend sind Wearables. Welche Bedeutung werden die für den Konsum der Zukunft bekommen.
Müller: Wir wachsen immer mehr mit der Technologie zusammen. Über mobile Devices ist das Internet mit uns auf die Straße gesprungen. Jetzt rückt es noch näher an uns heran oder geht sogar in uns hinein. Schauen Sie sich die technologische Evolution an: Das erste Medium war Kino. Die Leinwand war ganz weit weg und die Zuschauer waren mit 100 anderen Leuten im Saal. Dann kam Fernsehen. Die Leinwand war zwei Meter weg und es waren noch vier Leute im Raum. Dann kam der Computer. Die Leinwand war einen halben Meter weg und der Nutzer saß alleine davor. Der nächste Entwicklungsschritt war das Handy, von dem der Nutzer nur noch 20 Zentimeter entfernt war. Die Wearables kommen jetzt an den Körper, ans Ohr, an die Augen, in die Fashion. Der nächste Schritt sind Implantate. Kennen Sie Bragi The Dash? Das ist ein Start-up aus München, das im vergangenen Jahr den Hauptpreis für das geilste CE-Produkt auf der CES gewonnen hat. Das Unternehmen hat ein kleines, kabelloses In-Ear-Headset mit integriertem 4-GB-Musikplayer und vier Sensoren für Tracking-Funktionen entwickelt. Damit können Sie unter anderem Real-time-Translation machen. Sie sprechen mit einem Chinesen und bekommen seine Antworten sofort übersetzt. Damit sind Wearables noch einen Schritt weiter in uns reingekrochen. Und wenn Sie sich die neueste Generation von Hörgeräten anschauen - das sind dann schon Invisibles. Da hat man so was wie Augmented Audio. Das ist beispielsweise für Navigation spannend, Real-time-Translation und Ähnliches.
Anwendungen für den Handel, die Kunden nicht nerven
Aber wo sehen Sie für den Handel Anwendungen, die den Kunden nicht nerven?
Müller: Die neue Werbewelt ist hyperpersonalisiert. Dann nervt sie nicht, dann wird sie zum Service.
Das ist die schöne neue Werbewelt, die Agenturen gerne propagieren. Ich sehe aber bislang nur einfallslose Kampagnen nach dem Motto "Kommen Sie rein, wir bieten Ihnen zehn Prozent Rabatt oder einen Gratiskaffee."
Müller: Unternehmen, die so vorgehen, verlieren ja auch. Aber schauen Sie sich Player wie Google an, die hyperpersonalisieren und nur noch ausspielen, was für den Nutzer zum aktuellen Zeitpunkt relevant ist. Im digitalen Universum ist Targeting hochgradig erfolgreich. Und Realtime-Advertising ist ja genau das.
Welche Trends sehen Sie noch?
Müller: Predictive Intelligence ist auch ein Riesenthema. Händler wollen wissen, was der Kunde als Nächstes kauft. Und auch das ganze Thema Last Mile muss noch optimiert werden. In Estland gibt es jetzt einen Roboter, der dieses Thema löst.
Glauben Sie an die Drohne?
Müller: Ich glaube schon, dass alles, was den Lieferweg verkürzt und neu gestaltet, an Bedeutung gewinnen wird. Wir in unseren deutschen Städten können uns oft ja gar nicht vorstellen, was international abgeht. Schon in London zeigt sich, wie megaüberfrachtet die Verkehrswege sind. Und wenn Sie in Städten wie Mexico City oder irgendwo in China sind und für einen Kilometer Fahrtstrecke eine Stunde brauchen, brauchen Sie dringend Alternativen. Die Schweiz baut jetzt Tunnel für die Logistik. Cargo Sous Terrain heißt das Projekt.
Sehen Sie in Deutschland Händler, die für die Zukunft gut aufgestellt sind?
Müller: Ich finde einige Ansätze von Rewe in Sachen Delivery und Multichannel-Strategie und auch, was an der Kasse passiert, ganz gut und sehe, dass dort viel investiert wird. Auch Douglas ist sehr progressiv und gibt Gas. Media-Saturn will viel und muss auch viel machen, muss sich aber noch ein bisschen sortieren. In den kommenden ein bis zwei Jahren werden wir da sicher viel erleben, weil ja auch die Affinität der Zielgruppe zu neuen Technologien hoch ist.
Fassen wir noch einmal die aus Ihrer Sicht wichtigsten To-dos für Händler zusammen, die morgen noch existieren wollen.
Müller: Sie müssen Vorausschau betreiben. Statt zu schauen, was im vergangenen Quartal war, müssen sie den Markt gestalten. Amazon hat allein in Deutschland ein Team von 30 Leuten für künstliche Intelligenz. Das sind Skills, die kriegt man nicht einfach wie einen Lageristen, die muss man richtig selektieren, aufbauen, man muss sich super auskennen. Aber auch die großen Händler betreiben eine solche Vorausschau nicht. Die sind gut im Hier und Jetzt mit ihrem SEO und ihren Conversions. Aber in der Regel können Sie mit einem deutschen Multichannel-Chef nicht über künstliche Intelligenz sprechen oder höchstens ein kleines bisschen, weil er mal in San Francisco war oder bei Amazon reingeschnuppert hat. Aber ehrlich gesagt geht es nicht darum, beim Wettbewerber reinzuschnuppern, sondern die Themen selbst zu gestalten, und zwar jetzt und nicht erst 2030.
Auf welche Prognose der vergangenen Jahre sind Sie denn besonders stolz?
Müller: Das Outernet ist ein Begriff von Trend One und zeigt sich im Moment massiv. In Asien gibt es die ersten Shops, die nicht Mobile first, sondern Mobile only sind. Die bekommen 500 Millionen Risikokapital und sind nur mobil erreichbar. Das ist eine Ausprägung vom Outernet. Die andere ist das Internet der Dinge und Industrie 4.0. Bis 2020 werden 70 Milliarden Objekte ans Internet angeschlossen werden. Heute sind es maximal zehn Milliarden. Das ist alles Outernet-Technologie. Daher hat die Prognose schon sehr gut gepasst.
Und wo lagen Sie so richtig daneben?
Müller: Den medialen Hype Cycle um Second Life so um das Jahr 2005 herum haben wir auch voll mitgemacht. Das war auf jeden Fall überzogen. Aber das ganze Thema VR kommt ja jetzt wieder. Und jeder, der so eine VR-Brille aufsetzt, ist total geflasht. Ein solches Gerät hat Second Life damals vielleicht einfach gefehlt.