
Interview mit neuem BVDW-Chef Carsten Rasner: "Wir treffen uns nicht nur einmal im Jahr zum Schnittchenessen"
Der Bundesverband Digitale Wirtschaft befindet sich in einem radikalen Wandel. Von einer Neudefinition der Verbandsarbeit spricht der neue Geschäftsführer Carsten Rasner im Interview. Auch seine Rolle in der Gesellschaft will der BVDW künftig deutlicher spielen.
Seit September ist der Neue an Bord, die ersten 100 Tage sind um. Carsten Rasner hat die Nachfolge von Sven Bornemann als Geschäftsführer des Bundesverband Digitale Wirtschaft angetreten. Bornemann war von vornherein nur als Interimsmanager gekommen. Der 53-jährige Rasner führte mehr als 20 Jahre lang die Steinbeis School of Management and Innovation und gilt in der Wirtschaft als bestens vernetzt.
Die ersten 100 Tage sind fast um - ist der Job so, wie Sie das erwartet haben?
Carsten Rasner: Ja und nein. Auf der einen Seite erlebe ich die Vielfalt, die ich erwartet habe. Der BVDW steht ja für einen Vielzahl von Mitgliedern und Partnern aus der digitalen Wirtschaft und eine große Bandbreite von Themen. Auf der anderen Seite ist der BVDW glücklicherweise nicht ein Verband, der sich einmal im Jahr zum Schnittchenessen trifft, eine Hauptversammlung macht und sich ansonsten auf Lobbyarbeit konzentriert. Ich bin begeistert vom Engagement unserer Mitglieder. Wir arbeiten und kommunizieren tagtäglich auf verschiedensten Kanälen mit unseren Mitgliedern, was ich sehr positiv aufgenommen habe. Wir haben auch ein sehr aktives Präsidium, das einiges bewegt. In Summe nehme ich den BVDW als sehr unternehmerisch wahr, in dem Sinne von "Wir unternehmen was." Ich bin also da angekommen, wo ich ankommen wollte, und ich bin positiv überrascht von dem Momentum des Verbandes und seiner Mitglieder.
"Wir glauben an das Metaverse"
Der Verband möchte sein Momentum ja erweitern. Weit oben auf der Agenda stehen die Themen Metaverse und Digitalisierung. Fangen wir an beim Metaverse. Ist das Thema nicht viel mehr anbieter- als nachfragegetrieben?
Rasner: Für uns ist das durchaus ein Thema, das wir für die Zukunft besetzen wollen. Sicher können wir heute noch nicht sagen, wohin genau sich das Metaverse entwickeln wird. Deshalb ist es unsere Aufgabe, uns mit Zukunftsentwicklungen auseinanderzusetzen. Und das tun wir. Erst im Juni hat sich das Ressort Metaverse konstituiert. Seitdem entstand eine Studie, der wöchentliche Metaverse-Newsletter, es gab zahlreiche Interviews, Thesenpapiere, ein Playbook für Unternehmen und natürlich unser Metaverse Summit. 300 Besucherinnen und Besucher kamen vergangene Woche nach Rust in den Europa-Park – ein schöner Erfolg. Ja, auch dort haben wir gesehen, dass im Moment vieles anbietergetrieben erscheinen mag. Aber so ist es mit vielen Themen, bei denen zunächst die Anbieter und Innovatoren vorlegen, um dann die Nutzerseite zu gewinnen. In fünf Jahren wird das schon ganz anders aussehen. Wir glauben an das Metaverse und das große Interesse für das Thema und zwar aus allen gesellschaftlichen Schichten. Daher ist es wichtig, das Metaverse nicht nur unter den Business-Aspekten zu betrachten, sondern auch den Blick auf Technologie- und Gesellschaft zu richten. Auch das tun wir.
Das ist ein wichtiges Stichwort für das zweite wichtige Thema, die Digitalisierung. Sie hat ebenfalls eine starke gesellschaftliche Komponente. Viele Digitalisierungsprojekte scheitern ja nicht an mangelnder Technologie, sondern an gesellschaftlicher Akzeptanz. Wo kann der BVDW sich da einbringen? Der ITK-Branchenverband Bitkom etwa erscheint zu diesem Thema deutlich präsenter.
Rasner: Der Vergleich ehrt uns. Als ITK-Verband, wie Sie sagen, ist der Bitkom ganz anders aufgestellt, auch finanziell. Aber seien Sie sicher, an unserer Sichtbarkeit arbeiten wir. In Bezug auf die Digitalisierung haben Sie natürlich recht: Die Digitalisierung ist ein gesellschaftliches Thema, das technologisch getrieben wird und bei dem die Wirtschaft ein wichtiger Treiber ist. Die Industrie ist oft - schon aus wirtschaftlichem Interesse - viel schneller darin, technologische Lösungen anzubieten, während die Gesellschaft erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass es heute noch nicht einmal möglich ist, eine Steuernummer mit einer Kontonummer zu verbinden. Und das im 21. Jahrhundert, wenn es etwa darum geht, dringend benötigte Mittel an unsere Bürgerinnen und Bürger zu verteilen. Was fehlt, sind Anwendungen. Auf politischer Ebene steht jedoch seit Jahren die Infrastruktur im Fokus. Die Digitalisierung scheitert aber nicht an unterdimensionierten Leitungen im Erdreich. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland beim Ausbau der Infrastruktur laut DESI Report auf Platz vier. Anders als andere Verbände setzen wir daher auf den Einsatz innovativer Lösungen und auf Aufklärung.
Was will der BVDW als Verband tun?
Rasner: Wir als Gesellschaft brauchen eine positive Einstellung zu Veränderung und zur Nutzung von Daten.Das sehen wir als eine unserer Kernaufgaben. Dies kombiniert mit kreativen Ansätzen aus der Wirtschaft wird den Standort Deutschland nachhaltig wettbewerbsfähig machen und halten.
"Falscher Blick auf Nutzung von Daten"
Was heißt das konkret?
Rasner: Wir haben einen falschen Blick auf die Nutzung von Daten. Wir versuchen, die Gesellschaft und unsere Bürger vor der Nutzung von Daten zu schützen - anstatt uns darüber Gedanken zu machen, wie Daten uns helfen können. Das führt zu einer Lähmung; und das ist etwas, was wir dringend ändern müssen. Zu dem Thema hat der BVDW als Gedankenanstoß vor der Dmexco eine Kampagne mit dem Titel "Deine Daten können das" gestartet, die den Blick auf eine sinnvolle Nutzung lenkt, statt immer nur den Schutz vor Missbrauch in den Fokus zu rücken.
Der Verband möchte sich auch neu definieren. Wie soll der BVDW neuer Prägung aussehen?
Rasner: Wir sind in vielen Dingen schon anders als andere Verbände. Bei uns wird die Arbeit sehr stark von den vielen engagierten Mitgliedern vorangetrieben. Dieses Momentum wollen wir weiter nutzen und vor allem wollen wir unsere Mitglieder aktiv unterstützen. Doch wenn es darum geht, den BVDW neu zu denken, geht es beispielsweise um die Frage: "Wie wird ein Verband in fünf bis zehn Jahren wahrgenommen?“ Ich glaube, dass gerade die junge Generation, die heute kaum in Verbänden engagiert ist, gute Argumente und eine gute Aktivierung braucht, um dies zu tun. Ich möchte in unseren Verband viele junge, kreative Köpfe hineinbekommen. Dazu müssen wir uns weniger als klassischer Verband begreifen, sondern als Plattform, die Menschen und Unternehmen verbindet. Wir müssen immer wieder neue Themen besetzen, auch neue Inhalte zeitgemäß anbieten, sei es in Form von Events, als Weiterbildung oder in Form von Safe Spaces, die den Austausch unter Branchenkolleginnen und -kollegen ermöglichen.
Zu den Themen, die sich der BVDW auf die Agenda gesetzt hat, gehört auch Retail Media. Hier will der Verband Standards für die Werbung in Handelsumfeldern erarbeiten und etablieren. Ist der BVDW überhaupt in der Lage, Standards zu definieren, die international Beachtung finden?
Rasner: Diese Initiative ist von Unternehmen ausgegangen, die in vielen europäischen Märkten agieren, etwa Obi, MediaMarktSaturn, Douglas und Otto. Warum sollen wir also unser Selbstbewusstsein so weit zurücknehmen, dass Retail-Media-Standards nicht aus Deutschland kommen können? Wir haben in Deutschland starke Handelsunternehmen, die europaweit und weltweit tätig sind. Folglich ist klar, dass wir international denken müssen. Und das traut sich der BVDW auch zu.
Gibt es dazu bereits eine Zeitleiste?
Rasner: Wir werden noch in diesem Jahr aus der Initiative einen entsprechenden Fachkreis machen. Wir werden auch den Scope um Dienstleister und Partner erweitern. Innerhalb der nächsten sechs Monate wollen wir noch um einige große Schritte vorankommen.
Inwieweit beeinflusst die derzeitige konjunkturelle Lage, die Schwäche am Werbemarkt und die Situation großer Digitalunternehmen die Arbeit des BVDW?
Rasner: Machen wir uns nichts vor. Wir stehen erneut vor einer Zäsur. Schon die Pandemie hat in nahezu der gesamten Wirtschaft die Planungsbasis völlig verändert und die Planungszyklen verkürzt. Verändert. Was kann der BVDW jetzt als Verband leisten? Er kann unterstützen. Derzeit arbeiten wir an vielen neuen Informations-, Beratungs- und Qualifikationsformaten. Wir wollen aber auch niederschwellige Angebote machen, über die sich die Mitglieder miteinander austauschen und sich gegenseitig unterstützen können. Und ja, auch wenn es jetzt zu Einschnitten kommt, die Digitalisierung wird dadurch eher beschleunigt und sicher nicht abgewürgt.
Letzte Frage: 23 Jahre waren Sie bei der Steinbeis School of Management and Innovation, jetzt seit 100 Tagen beim BVDW. Wie lange wollen Sie diesen Job machen?
Rasner: Die Frage wurde mir auch gestellt, bevor ich hier angefangen habe. Und ehrlich gesagt: Jetzt, am Anfang denke ich bestimmt nicht über Vertragslaufzeiten nach, sondern freue mich auf die vielen Projekte und Themen, die wir gemeinsam anpacken. Ich weiß, ich kann Treue und ich kann auch Treue in Verbindung mit dauerhafter Veränderung und Innovation. Vielleicht läuft es so wie mit dem SC Freiburg und seinem Trainer Christian Streich. Den hat auch niemand gefragt, wie lange er wohl bleiben will. Und irgendwann hat jeder bemerkt, der ist ewig lange dabei - und hat immer einen fantastischen Job gemacht.
(Anm. d. Red.: Christian Streich ist seit Januar 2012 Cheftrainer des SC Freiburg und damit der dienstälteste Trainer der Fußball-Bundesliga. Rasners Fußballherz schlägt allerdings seit dem 5. Lebensjahr für den VfB Stuttgart - und das als gebürtiger Nordhesse.)